Pitigliano ist alt, uralt. Seit fast dreitausend Jahren besteht die Siedlung auf dem Tuffsteinfelsen zwischen Meer und Lago di Bolsena, dominiert eine archaische Landschaft mit dichten Wäldern, Schluchten, Flussläufen. Von Etruskern gegründet, von Römern erobert, im Mittelalter eingenommen von den Medici, den Orsini. Seit Ende des 16. Jahrhunderts hatte Pitigliano eine große jüdische Gemeinde, von den Feudalherren untergebracht in einem engen Ghetto. Um die Zeit der Reichsgründung 1870 war jeder achte Einwohner im Ort jüdischen Glaubens, mittlerweile mit Bürgerrechten ausgestattet und in jeder Hinsicht gleichberechtigt. Christliche Mitbürger verteidigten die Juden selbstverständlich gegen Plünderungen und Pogrome und retteten viele vor der deutschen Besatzung im 2. Weltkrieg. 22 Mitglieder der jüdischen Gemeinde wurden dennoch von Nazis und Faschisten deportiert und ermordet. Das „kleine Jerusalem“ in der Toskana war zerstört. 1960 schloss die Synagoge, nach 360 Jahren. Und heute ist “la piccola Gerusalemme” vor allem eine Touristenattraktion mit Souvenirläden und jüdischem Gebäck.
Weil Pitigliano so schön ist, sind auch in diesem Sommer viele Touristen dort. Man hört deutsch und norditalienische Dialekte. Die Läden und Gassen sind voll, die Häuser leer. Wie fast überall in den Dörfern Mittelitaliens leben die Menschen nicht mehr im historischen Kern, sondern in der modernen Siedlung daneben. Knapp 3500 Einwohner hat Pitigliano, jedes Jahr werden es weniger. Einer von ihnen ist Carlo Ceppodomo. Er schaut gerade in seinem Betrieb an der Piazza della Repubblica nach dem Rechten. Ceppodomo ist ein kleiner, älterer Herr, etwas untersetzt, ziemlich gemütlich. Sein Betrieb heißt „Cinema Moderno“ und befindet sich seit 1963 in Familienbesitz. Das Kino von Pitigliano. Ein Saal mit hundert Plätzen, aus Tuffstein gebaut. Der Putz bröckelt, die Vorführungsmaschine läuft digital. Doch das „Cinema Moderno“ ist geschlossen, nicht nur wegen Covid.
Ceppodomo würde es gern vermieten, die Verantwortung und die Arbeit abgeben, aber er findet niemanden. Seine Kinder haben dankend abgelehnt, einer arbeitet als Manager in China, der andere als Kapitän auf Handelsschiffen. Angesehene, lukrative Berufe. Wer will schon ein Kino übernehmen, in einem Dorf am Rande der Toskana? Ein dritter Sohn hat es versucht. Eröffnet, geschlossen, eröffnet, geschlossen. Wenn überhaupt, lohnt sich das Kino nur im Sommer. Man braucht Ideen, Initiative, vor allem aber Eigenkapital und viel Geduld.
Das „Cinema Moderno“ war supermodern, als es 1919 eröffnet wurde. Direkt nach dem 1. Weltkrieg hatte Pitigliano ungefähr so viele Einwohner wie heute und sie füllten den Saal, um in die Welt des Stummfilms abzutauchen. Weil längst nicht alle lesen konnten, wurde eine Vorleserin engagiert, die mit Stentorstimme die Untertitel ablas. Vorleserin im Kino, das war mal ein Beruf, wenn auch nur für kurze Zeit, in einem anderen Jahrhundert.
Wie viele „Cinema Moderno“ gibt es in Italien? Fast jedes Dorf hatte eins, längst stehen sie leer, im besten Fall wurden sie in eine Aperitifbar verwandelt. Inzwischen hat das große Kinosterben auf die Städte übergegriffen und Covid gibt der italienischen Filmtheater-Kultur gerade den Rest.
Aber in Pitigliano ginge noch was.