Sogar im November ist der Campo Verano, Roms Monumentalfriedhof im Stadtteil San Lorenzo, ein verwunschener und fast verlassener Ort. Nur wenige Menschen sind unterwegs zu den Gräbern ihrer Lieben – was auch damit zusammenhängen mag, dass hier nur noch zwei Mal in der Woche Beerdigungen stattfinden. Es gibt keinen Platz und keine neuen Gräber. Roms Zentralfriedhof ist längst der Cimitero Flaminio weit außerhalb der Stadt, eine Toten-Metropole mit Grabhochhäusern.

Der Verano ist eine andere Liga. Gediegenes Bürgertum mit viel Sinn für Marmor und durchaus auch für Exzentrik. Letzeres abzulesen an verspielten Miniaturtempeln und lebensgroßen Statuen der Verstorbenen. Anonyme Bestattungen gibt es hier gar nicht, was die Römer einmal mehr als Kulturvolk ausweist.

In der Arciconfraternita del Preziosissimo Sangue sitzen ein paar Herren bei Getränken aus Pappbechern. Was meine Fantasie gleich in Richtung Gelage beflügelt, inspiriert von Mathias Enards grandiosem Totengräber-Bankett, einer fantastischen November-Lektüre übrigens. Zumal die Erzbruderschaft vom Wertvollsten Blute sich auf ein Stück Stoff bezieht, das in die offenen Wunde Christi getunkt wurde, um anschließend auf wundersamen Wegen nach Rom zu gelangen. Eine Story wie von Enard oder gleich von Rabelais erfunden. Aber sehr wahrscheinlich wird auf dem Verano nur Kaffee getrunken, denn diese römischen Erzbrüder machen bei aller Aufgeräumtheit einen ziemlich nüchternen Eindruck.
Und während man durch die stille Totenstadt wandelt, verwitterte Inschriften entziffert, rührende Widmungen liest, ertönt auf einmal ein lautes Wuschsch!
Es sind die Stare.

Wie auf Kommando kommen sie aus den Zypressen hervorgeschossen, zum ausschweifenden Formationstanz im Abendhimmel. Es sind Tausende, ihr aufgeregtes Gezwitscher erfüllt die Luft, ihr Flügelschlag belebt die starre Friedhofsruhe. Die Stare fliegen in den Sonnenuntergang, eine Demonstration von Schönheit und Lebenslust.

Gefällt aber nicht jedem. „Maledetti“ knurrt ein alter Signore, während wir zum Ausgang streben. Die verfluchten Vögel. Der Kot, der Dreck. So ist es halt immer, die einen gucken in den Himmel und die anderen auf den Boden, jeder findet dann, was er sucht. Die Stare lässt es kalt, sie schwingen sich zu immer neuen Flugbildern auf, die sich in Sekundenschnelle auflösen und dann, in einem großen Wusch! verschwinden sie wieder in ihren Zypressen. Aus den Bäumen ertönt ein riesiges Geschnatter, jede Starenzypresse ein Lautsprecher.
Bei Sonnenuntergang beruhigt sich alles. Vielleicht scheint es auch nur so, denn die großen, eisernen Friedhofstore werden geschlossen, der Verano bleibt still für sich.
Doch es ist noch Zeit für eine kurze Visite auf dem Kapitol, bei Santa Maria in Aracoeli. Hier befindet sich nämlich eine ganz wunderbare Hinterlassenschaft des antiken Glaubens an die Aussagekraft des Vogelflugs. Im Längshaus stammt die dritte Säule linkerhand vermutlich aus dem Auguraculum, dem nahe der heutigen Kirchenapsis ansässigen Beobachtungsposten der Auguren. Das waren die Deuter des Vogelflugs, die aus den Bewegungen der Tiere das Schicksal der Stadt und ihrer Herrscher herauslasen.

In die Säule ist auf Augenhöhe ein Loch gebohrt. Der Kanal führt schräg nach oben. Ein Ornithologen-Fernrohr, 2000 Jahre alt.

Julius Caesar hatte die Anzahl der Auguren auf 16 festgesetzt, schließlich handelte es sich um eines der wichtigsten Ämter der Stadt. Bis weit ins 4. Jahrhundert, das Christentum war schon auf dem Vormarsch, trafen sich die Auguren einmal monatlich auf ihrem Posten im Kapitol zu Beratungen. Vermutlich verhandelten sie, wie man wem welche Wahrheiten einschenken sollte, schließlich konnten sie den lieben Vögelchen eine Menge zuschreiben. Die Macht der Seher.
Heute sagt man in Rom „auguri“, wenn man jemandem Glück wünschen will. Und so sind die Auguren genauso ewig wie der Flug der Stare.
Schöne Erinnerungen und neue Erkenntnisse, danke! Erinnerungen an meinen Spaziergang auf diesem Friedhof vor vielen Jahren mit einer guten Freundin, die wunderbare Schwarz-Weiβ-Fotos von den Statuen machte. Dass „Auguri“ von Vogelflug-Beobachtern herkommt, ist eine originelle Erklärung. Man wünscht sich also gute Aussichten. Liebe Grüße in die Ewige Stadt!
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Danke und ein lieber Gruß zurück in den Norden!
(Die Herkunft von Auguri stimmt tatsächlich…)
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Mille grazie für diese römischen Impressionen. Ein sehr schöner Beitrag und wunderbare Bilder – da bekommt man sofort Fernweh und Sehnsucht nach der ewigen Stadt… Herzliche Grüße!
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Auguri, Birgit! Wieder mal eine schöne Geschichte, die einem das Herz wärmt. Grazie mille.
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Hallo Birgit,
als ich Deinen Beitrag gelesen habe, bin ich ganz wehmütig geworden. Wir wohnen seit 9 Jahren in Neufahrn bei Freising und in der Zeit sind mir auch jedes Jahr die Stare aufgefallen. Aber ich hatte das Gefühl, es waren noch nie so wenige wie dieses Jahr. Schön, dass sie anderenorts noch so zahlreich unterwegs sind.
Ich habe eine Website abonniert, wo man jeden Tag eine Englischvokabel gefragt wird (https://owad.de/). Heute war das Wort „murmuration“ dran, nie gehört. Heißt Formationsflug, vor allem von Staren, und hatte in der Auflösung den Link zu einem faszinierenden Filmchen über die Stare in Rom: https://www.youtube.com/watch?v=UVko9jyAkQg
Darin heißt es, der größte Schwarm hatte 10 Millionen Vögel – Du hast also mit Deinen Tausenden eher untertrieben 🙂
Liebe Grüße
Kit
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