
Strandbad Ultima Spiaggia bei Capalbio
Der Berliner Tagesspiegel hat kürzlich diesen Text von mir veröffentlicht. Jetzt auch hier!
Als die Kinder klein waren, fuhren wir im Sommer an den Strand, auf dem schon ihr Vater die großen Ferien verbracht hatte. Von Rom aus ging es durch die Abruzzen zum Sommerhaus der italienischen Großeltern, aus der Küche konnte man die schneebedeckten Berggipfel sehen und vom Wohnzimmer das Meer. Unten an der Adria wartete das Strandbad La Conchiglia. Rosa Oleanderbüsche am Eingang, zwei Kickertische, ein Volleyballfeld und altmodische Umkleidekabinen. Dann erst kam die Bar mit ihrer coolen Stahltheke und der weißlackierten Holzveranda, auf der Caffé shakerato serviert wurde, Espresso mit Eiswürfeln, in einem Cocktailshaker schaumig gerüttelt. Ein sorgfältig gefegter Steg führte durch die Reihen blauweiß gestreifter Sonnenschirme und dunkelblauer Liegen. Der Sand war fein und gelb.
Die Großeltern mieteten immer denselben Platz in der ersten Reihe, für die gesamte Saison von Juni bis September. Ein Pappschild am Schirm trug den Namen der Familien, unseres war schon leicht vergilbt. Links befanden sich die Plätze von Tante Maria Laura, Witwe eines ortsansässigen Notars, rechts jener ihrer Schwiegertochter Anna Maria. Mit der Zeit verstand ich, dass unsere Puffer-Position ihren Sinn hatte, denn die beiden Frauen verabscheuten sich auf das Herzlichste, den ganzen Sommer lang.
Zur ersten Reihe gehörten außerdem Onkel Lello, ein pensionierter Verfassungsrichter und seine Frau Tante Uccia, die unsere Kinder deshalb verehrten, weil sie stets riesige Schwimmflossen anzog, bevor sie ins brühwarme Wasser stieg und erstaunlich schnell in Richtung Horizont verschwand. Diese Onkel und Tanten waren keine Verwandte, hatten aber als Schulfreunde meines Schwiegervaters Anrecht auf die familiäre Anrede, ebenso auf Begrüßung und Verabschiedung mit Wangenküsschen und freundlichen Smalltalk drumherum. Ich lernte: Ins Strandbad ging man nicht, um zu baden, sondern um in Gemeinschaft zu sein. Gemeinsam beugte man sich über das Rätselheft La settimana enigmistica, gemeinsam plauderte man im sehr warmen Wasser der Uferzone, gemeinsam tat man „zwei Schritte“ den Strand entlang oder schlürfte einen Chinotto in der Bar, eine fast schwarze Bitterorangen-Limo. Über allem wachte Mario, der Strandbadpächter, auf seinem selbstgezimmerten, roten Turm und rief die Kinder in seinem kehligen Dialekt zur Ordnung. Es roch weniger nach Meer als nach Lakritze aus einer nahen gelegenen Fabrik.
Stessa spiaggia, stesso mare, so heißt ein alter Schlager aus dem Jahr 1963. Derselbe Strand, dasselbe Meer und natürlich dieselbe Strandbar. Per quest’anno, non cambiare, ändere dieses Jahr nichts. Es geht um Liebe, natürlich. Aber die leicht zackige Melodie steht auch für das italienische Wirtschaftswunder. Meine Schwiegereltern, beide in abruzzesischen Bergnestern aufgewachsen, sahen das wenige Kilometer entfernte Meer erst als Heranwachsende. Als sie in der Hauptstadt reüssiert waren, kehrten sie zurück. Das Fischerhaus, in dem sie als junge Eltern ihre knappen Urlaube verbracht hatten, war durch das Haus auf dem Hügel ersetzt. Auch Mario, der früher auf dem noch leeren, noch freien Strand an einer Holzbude Getränke verkaufte, hatte sich gemacht. Er war jetzt Betreiber und Gastgeber von La Conchiglia.
Das stabilimento als Emblem eines Landes, das über Jahrzehnte sehr nach vorn drängte Stessa spiaggia, stesso mare. Die alten Freunde aus der ersten Reihe von La Conchiglia sind nicht mehr. Als letzte starb Tante Maria Laura, fast hundertjährig, im vergangenen Sommer. Zurück im Strandbad bleiben die Erben des italienischen Wirtschaftswunders. Sie übernehmen die Häuser, die Sonnenschirme, oft auch die Lebensweise und das Weltbild. Das gilt für die Gäste, oft aber auch für die Gastgeber. Viele führen das Strandbad in zweiter oder gar dritter Generation. Sie haben die Lizenz dafür geerbt wie die Badegäste ihren Platz. Alles säuberlich aufgeteilt. Doch jetzt plötzlich, soll sich das ändern.
Das Meer und seine Küsten sind Staatseigentum, niemand kann einen Strand kaufen, allerhöchstens mieten. Mehr als die Hälfte der Strände sind vom Staat an Badeeinrichtungen wie „La Conchiglia“ verpachtet, in Ligurien, der Emilia-Romagna und Kampanien sind es sogar 70 Prozent. Die Pächter dürfen auf den Stränden Bars betreiben, Liegestühle aufstellen und vermieten, Kaffee verkaufen und Münzen für eine Dusche.

Strand auf La Maddalena
Was sie nicht dürfen: den Zutritt zum Meer verwehren. Sich als Besitzer des Strandes gerieren. Trotzdem tun das viele. Etwa in Ostia bei Rom, wo eine vier Kilometer lange Betonwand Sicht und Zugang zum Meer verwehrt. Die Römer nennen die Wand „il Muro di Ostia“, als wäre sie ein Abklatsch der Berliner Mauer. Den Strand dahinter kann man ohne Einlasskontrolle nicht betreten.
Auch auf der mondänen Insel Capri wird das Meer weggesperrt, nur etwas eleganter. 14 Euro pro Person – Sonnenschirm und Liegen nicht inklusive, kostet der Eintritt ins Strandbad „Bagni Tiberio.“ Seit 1926 führt dort ein und dieselbe Familie das Regiment: Badegäste dürfen kein Essen und keine Getränke mitbringen. „Bagni Tiberio“ erstreckt sich in den kolossalen Ruinen eines Palastes von Kaiser Tiberius. Das Kulturerbe wurde genauso besetzt wie der Kiesel-Strand.
Wenn es nach Carlo Salvemini ginge, dem linken Bürgermeister der apulischen Stadt Lecce, wären die Tage für die Mauerbauer von Ostia und die Bademeister im Tiberius-Palast bald gezählt. Salvemini hat Italiens Regierung vor dem Obersten Verwaltungsgericht verklagt, weil diese 2018 die Konzessionen für die Strandbäder schon wieder verlängert hatte, obwohl eine EU-Norm eigentlich schon seit 2006 Wettbewerbsfreiheit gebietet. Danach müssten die Lizenzen immer mal wieder neu vergeben werden, anstatt ewig verlängert oder sogar vererbt. Bürgermeister Salvemini forderte, dem Staat die Oberhoheit über die Strände zurückzugeben. Das Gericht gab ihm Recht. Ende 2023 laufen die alten Lizenzen aus. Für die neuen soll es Auflagen geben. Mehr Nachhaltigkeit, mehr Inklusion, mehr freie Strände.
Die Strandbadpächter wehren sich dagegen. Sie haben mächtige Fürsprecher: Silvio Berlusconi, Matteo Salvini und Giorgia Meloni, die Führer der Rechtsparteien. Berlusconi und Salvini sind in der Regierung und müssen zähneknirschend hinnehmen, dass Ministerpräsident Mario Draghi die Lizenzvergabe zur Chefsache macht. Aber sie erreichten, dass Pächtern eine Aufwandsentschädigung versprochen wird, falls sie ihre Lizenz nicht verlängern können. Und sie verkünden: Wenn sie 2023 die Parlamentswahlen gewinnen – was den Umfragen zufolge recht wahrscheinlich ist – dann wird die Strandbad-Reform wieder abgeschafft.
Den rechten Populisten geht es nicht nur um die 12.166 Lizenzen. Sondern ums Prinzip. Wo die italienische Familie waltet, da soll sich der Staat nicht einmischen und Brüssel erst recht nicht. Viele Italienerinnen und Italiener sehen das genauso, deshalb sind Populisten ja so erfolgreich. Sie versprechen den Bürgern, sie vom Staat zu befreien. Der Strandbad-Feldzug ist als Wahlkampfthema ideal, denn er verbindet den Traum von Sonne, Caffè shakerato und Meer mit der Mär von den bösen Behörden als Handlangern der Globalisierung. Die guten Italiener, die sich aufopferungsvoll um unsere Strände kümmern, sollen jetzt ausgebootet werden, behauptet die Rechte. Die freie Lizenzvergabe bedeute den Ausverkauf Italiens an die multinazionali, die Heuschrecken der internationalen Tourismusbranche.
David gegen Goliath, es ist das alte Lied. Nur stimmt es nicht. Denn erstens werden viele Strandbäder schon jetzt von großen Hotels geführt. Oder von Unternehmern, für die ein stabilimento nur ein Business-Zweig unter vielen ist. Ausländische Investoren hingegen machen seit Jahren immer größere Bögen um Italien, weil die Infrastruktur des Landes unzureichend ist, die Bürokratie ein Alptraum und die Justiz schneckenhaft langsam. Die bisherigen Pächter sollen bei der Vergabe der neuen Lizenzen bevorzugt werden. Allerdings zu einem angemessenen Preis. Bislang sind es im Schnitt 7600 Euro – für eine ganze Saison. Viele zahlen deutlich weniger, manche auch einfach nichts. Aus den letzten fünf Jahren stehen noch 39 Millionen Euro Pacht aus.
Verrückt findet das Luxusunternehmer Flavio Briatore. Er betreibt das „Twiga“ im toskanischen Marina di Pietrasanta, wo ein Zelt mit mehreren Liegen in der Hochsaison 1000 Euro kosten kann – pro Tag. „Ich müsste eigentlich statt 17.000 Euro mindestens 100.000 Euro Pacht zahlen“, sagte Briatore, eigentlich ein Freund der Rechten, kürzlich dem „Corriere della Sera.“ In Marina di Pietrasanta sind 98,8 Prozent der Strände verpachtet. Die seit Ewigkeiten links regierte Region Toskana will daran nichts ändern. In Latium, der Region um Rom, sollen hingegen stabilimenti höchsten die Hälfte der Küstenabschnitte besetzen. Der Strand soll nicht länger nur zum Geldverdienen und zum Konsumieren da sein, sondern als ein Stück Natur geschützt werden. Für viele italienische Politiker, gleichgültig welcher Couleur eine vollkommen verstiegene Idee.
Noch überwiegen Partei übergreifend ziemlich konservative Vorstellungen von Urlaub. Mit dem Auto zum Strand fahren, dann tagsüber dicht gedrängt Liege an Liege rösten und abends feiern zu lauter Musik. Wie das geht, machte Lega-Boss Salvini, der damals Innenminister war, im Sommer 2019 bei einer denkwürdigen Strand-Besetzung vor. Aus dem Ministerium in Rom zog Salvini in das Strandbad Papeete Beach in Milano Marittima an der Adria. Umgeben von seinen Leibwächtern gab er mit nacktem Oberkörper Pressekonferenzen an der Bar und tanzte zur Techno-Version der Nationalhymne. Das bizarre Happening löste eine Regierungskrise aus, der Strandminister musste in die Opposition wechseln. Der Papeete-Pächter Massimo Casanova sitzt als Abgeordneter der Lega im Europaparlament.

Dort streiten Salvinis Vasallen nicht nur für die Privilegien der Strandpächter. Sie bekämpfen vor allem jene, die in Italien stranden. Die provinziell anmutende Posse um die Sonnenschirm-Lizenzen lenkt vom großen Drama der Flüchtlinge ab, die auch in diesem Sommer auf Sizilien, in Apulien, in Kalabrien ankommen. Wissentlich ignoriert die Strand-Lobby die Tatsache, dass seit Jahren die meisten Gründungen mittlerer und kleiner Unternehmen in Italien durch Einwanderer erfolgen. Chinesen, Inder und Rumänen könnten mit dem neuen Lizenzgesetz auch ein Strandbad eröffnen, genau wie jene jungen Italiener, die keine Lizenz erben können, aber gern eine erwerben würden. Italien ist viel diverser und fortschrittlicher, als es die Papeete-Politik erahnen lässt. Wenn auch vielleicht nicht überall.
Die Saison war noch nicht eröffnet, da fuhr ich die Küstenstraße von Rom in Richtung Süden. Links erhoben sich die kahlen Berge aus Sergio Leones Spaghettiwestern, rechts lag, glitzernd unter der Steilküste, das Meer. Kurz vor Gaeta ein Schild: „Aeneas‘ Landing.“ Wie verheißungsvoll. Der trojanische Held Aeneas, ein Sohn der Liebesgöttin Aphrodite, soll auf der Flucht an diesem Küstenabschnitt gelandet sein, um Stammvater der Römer und Urahn von Julius Caesar zu werden. So erzählen es die Dichter der Antike. Ich stellte das Auto ab, stieg aus. Ein einladend geöffnetes Eisentor, eine Treppe führte hinab, 130 Stufen. Unten weißer Sand, umrahmt von Felsen voller Kaktusfeigen: sagenhaft.
Vorher kam noch ein Tor. Dahinter saß eine Frau mit einem kolossalen Hund. „Treppenbenutzung drei Euro pro Person“, sagte sie. „Der Strand ist doch frei?“ fragte ich. Selbstverständlich dürfe ich ans Meer, ohne zu zahlen. „Aber umsonst zurück nach oben, das wird schwierig, Signora. Die Treppe gehört nämlich mir.“
