Schaut auf dieses Land

In Deutschland macht man sich keine Vorstellung davon, wie demokratiemüde die Bürgerinnen Italiens sind. Es fängt schon damit an, dass der Begriff „cittadini“, also Bürger, in der Politik keine Rolle mehr spielt. Politiker und Journalisten reden immer nur von Italienern.

Das Misstrauen gegenüber einer politischen „Kaste“, die nach Ansicht vieler nur ihre eigenen Privilegien pflegt, anstatt sich um die Probleme aller zu kümmern, ist in den letzten Jahren zunehmend Resignation und Wut gewichen. Man kann davon ausgehen, dass bei den nun wahrscheinlichen vorgezogenen Neuwahlen Nichtwählerinnen den größten Anteil haben werden. Wahlen ändern nichts, davon sind sehr viele Italiener überzeugt.

Tatsächlich ist es schon viel zu lange so, dass die Politik der Zivilgesellschaft hinterher hinkt. Aus den Parteien kommen keine neuen Impulse. Die dort verhandelten Themen sind allesamt von gestern, was zu einem guten Teil am Personal liegt. Leute, die so alt sind, dass sie im Vatikan keinen neuen Papst mehr wählen dürften (immer noch Berlusconi! Fast 86!), die weder über ausreichende Bildung noch über Berufserfahrung verfügen (Meloni, Salvini, Di Maio), die keine Ahnung haben, wie es im Rest der Welt aussieht (siehe oben, ergänzt durch Conte, Grillo). Aber das ist nur die Speerspitze, in den hinteren Reihen ist das Bildungsniveau noch verstörender. Die meisten Politiker und Politikerinnen haben schlicht überhaupt keine Ahnung von dem, über das sie entscheiden sollen. Und das ist der Grund dafür, warum sie sich in den permanenten Wahlkampf flüchten. Sie wollen nicht gestalten, sie wissen gar nicht, wie das geht. Ich bin überzeugt davon, dass der wahre Grund für den Reformstau die intellektuelle Unfähigkeit und mangelnde Bildung der meisten Parlamentarierinnen ist.

Seit viel zu vielen Jahren wird das Land mit Notverordnungen regiert. Das bedeutet: Das Kabinett erlässt ein Dekret, das 60 oder 90 Tage lang Gültigkeit hat, bevor es vom Parlament abgesegnet werden muss. Diese Prozedere würdigt das Parlament zu einer bloßen Abnick-Veranstaltung ab. Wenn es doch mal Konflikte in der Koalition gibt, werden sie mit Vertrauensabstimmungen abgewürgt. Das Ergebnis: Außer dem Gesetz für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften (ging auf Renzi zurück) und die Grundsicherung für Arme (einziger Verdienst der 5 Sterne) wurde in den letzten Legislaturperioden faktisch nur das Haushaltsgesetz wirklich verhandelt – und dann mit tausenden (keine Übertreibung) Änderungsanträgen beschwert. Wie sollen die Bürgerinnen das nachvollziehen? Wie es gutheißen?

Auch die Medien sind leider Teil des Problems. Für sie gilt das Gleiche wie für die Politik: Die Chefs sind ausnahmslos alte, weiße Männer – im Staatsrundfunk mit dem gerade passenden Parteibuch. Der Frauenanteil in politischen Diskussionssendungen tendiert gegen Null, das im Fernsehen vermittelte Frauenbild steckt tief in den 1980er Jahren. Zu schweigen vom fiktionalen Programm, wo das Einwanderungsland Italien ebenso wenig stattfindet wie alternative Familienmodelle. Zeitungen spielen keine Rolle mehr. Nur in Griechenland lesen weniger Menschen Zeitung als in Italien. Was auch daran liegt, dass sie sich und ihre Lebensrealität darin nicht mehr wiederfinden. Nehmen wir zum Beispiel die enorme Hitze und Dürre in diesem Sommer: Für die Presse, und ich rede hier von den Großen, also Repubblica und Corriere della Sera, war der Po erst ein Thema, als er schon halb ausgetrocknet war. Ein riesiger und bedeutender Teil des Landes, nämlich das Agrarland Italien, Europas größter Produzent von Bio-Lebensmitteln und wichtiger Exporteur von Nahrungsmitteln überhaupt, findet in den Medien nicht statt, weil die Journalisten keine Ahnung von naturwissenschaftlichen und agrarwissenschaftlichen Zusammenhängen haben. Genau wie die Politiker. Und wie es in der Politik keine Expertinnen für viele Themen gibt, so fehlen sie auch in den Redaktionen.

Lasst uns endlich anfangen, Italien und seine Krise ernst zu nehmen. Sie bedroht uns alle.

Fortsetzung folgt.

4 Gedanken zu “Schaut auf dieses Land

  1. Fähige Italienerinnen suchen das Weite, vielleicht nicht immer ganz so extrem wie „AstroSamantha“, deren Weltraumspaziergang wir gerade live bei Ansa.it verfolgen können.

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  2. Genau! Und der seit Jahrzehnten anhaltende Brain-drain macht sich bemerkbar. Zum Beispiel in den Krankenhäusern. Der Ärztemangel ist eklatant, aber Neueinstellungen bleiben ebenso tabu wie Anwerbung aus dem Ausland. Gilt auch für Pflegepersonal. Zumindest in Rom alles Einheimische, viele davon im Pensionsalter.
    Haben wir aus der Politik etwas dazu gehört? Im Radio? In den Zeitungen etwas darüber gelesen?

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  3. Nein. Mir ist auch die „Verplanung“ der Lehrkräfte an den öffentlichen Schulen ein Grauen. Dieser jahrelange Zustand des Prekariats, unter dem die Lehrer (und wer will schon noch Lehrer werden) und die Schüler leiden, die keine Konstanz haben. Anfang September wissen weder Schüler noch Lehrer, mit wem sie es im neuen Schuljahr zu tun haben. Ich rege mich dann immer auf, wenn sogar in den ersten Tagen des Unterrichts noch nicht alle Lehrer da sind, und meine Töchter winken nur ab. Ach, Mama nerve nicht mit deinen Sprüchen, das ist nun mal so.

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  4. Das ist das Schlimmste, dass unsere Kinder sagen: Ist nun mal so. Ja, die Schule ist auch ein Riesenproblem und nicht erst seit gestern. Ich habe Bekannte, die 20 Jahre lang auf ihre feste Stelle gewartet haben. Und in Rom wusste man am Anfang der Sommerferien immer nicht, wann sie aufhörten. Manchmal wundert man sich als verwöhntes Nordlicht, was sich Italiens Bürgerinnen alles bieten lassen.

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