Pink Police

Die italienische Polizeigewerkschaft Sap hat sich bei der Regierung darüber beschwert, dass ihre Mitglieder rosa gefärbte Ffp2-Masken tragen sollen. Die Farbe Rosa sei unangebracht, argumentiert die Gewerkschaft. Schließlich solle die Polizei seriös, ja Respekt gebietend auftreten, man habe es in diesen Zeiten schon schwer genug und werde dauernd angefeindet. Deshalb bitte: Nur Masken in weiß, dunkelblau, schwarz – und hellblau.

Moment, hellblau?

Wenn in Italien ein Kind zur Welt kommen, schmücken die stolzen Eltern und Großeltern ihre Haustür mit einer großen Schleife. Hellblau, wenn es ein Junge ist. Rosa bei einem Mädchen. Hellblau ist also in der allgemeinen Wahrnehmung eine Babyfarbe. Genau wie Rosa.

Warum also soll eine rosa Maske für einen italienischen Polizisten unangemessen sein und seine Autorität untergraben, während eine hellblaue völlig okay wäre?

Genau: Rosa ist für Mädchen.

Dass die Sap rechts und von gestern ist, hat sie schon öfter bewiesen (Einheitsgewerkschaften gibt es in Italien nicht.) Wie mächtig sie ist, leider auch. Von 100.000 PolizistInnen gehören 20.000 diesem Verein an. Jede/r fünfte. Der Frauenanteil bei der Polizei beträgt nur 15 Prozent, aber das Kommando hat eine Frau, die parteilose Innenministerin Luciana Lamorgese.

Die Maskenfarce wird jetzt also richtig interessant. Wie wird Lamorgese auf das Gezeter reagieren? Am einfachsten wäre es natürlich, die Anti-Rosa-Sheriffs ihre Masken selbst kaufen zu lassen. Wer kein Rosa will, muss halt blechen, fertig. Die Steuerzahlerinnen können auf solche Schwurbler keine Rücksicht nehmen, wäre ja noch schöner.

Zumal die Sap, deren Vertreter einst den ausgesprochen peinlichen Polizeiminister Salvini auf das Allerpeinlichste hofierten, auf dem total falschen Dampfer ist. Denn bevor im 20. Jahrhundert Rosa als Mädchenfarbe populär wurde, war es im Abendland die Männerfarbe. Rosa verband das virile, aggressive, leidenschaftliche Rot mit dem intellektuellen, aufrichtigen Weiß. Italiens Malerstars wie Masaccio malten Christus in Rosa, Michelangelo tunkte sogar den Schöpfer selbst in eine pinkfarbene Wolke. Hier entstehen auf göttlichen Fingerzeig gerade Sonne und Mond!

Mehr Autorität geht nicht, oder?

In Venedig, wo die Masken eingesetzt werden sollen (by the way: im Karneval), ist der Dogenpalast rosa. In NRW wurden vor ein paar Jahren Gefängniszellen rosa gestrichen, zur Beruhigung der Häftlinge. Rosa soll nämlich das Stresslevel senken, angeblich.

Rosa Masken für alle, per favore. Aber wieso eigentlich nicht gleich rosa Uniformen? Der rosa Polizei gehört die Zukunft.

Nicht nur in Italien!

Felsenkönigin

Es gibt Leute, die fahren im Winter an die Nordsee. Grazie, mir ist es da im August gerade winterlich genug. Meine Winterinsel heißt Capri. Im Sommer mache ich einen großen Bogen darum, viel zu voll, viel zu heiß und ohne Boot nichts los – wer möchte denn KIESELSTRÄNDE, wenn man doch in Italien den allerfeinsten Sand findet?

Mitten im Winter aber ist Capri konkurrenzlos märchenhaft. Warum und wo und mit wem, das steht heute in der ZEIT, die mich auf Reportage dorthin geschickt hat. Danke, liebe KollegInnen!

Mir kam dort unter anderem die Erkenntnis, dass dieser ganze Sommer- und Bade-Massentourismus spätestens durch den Klimawandel vollkommen irre geworden ist. Bei 40 Grad im Schatten wird es wirklich beschwerlich, auf der Piazzetta dieses ordinäre orangefarbene Klebezeugs zu schlürfen, geschweige denn, einen Spaziergang zu den Ruinen des Tiberius-Palastes zu absolvieren.

Aber bei immerhin 18 Grad war ich da ganz allein. Sowohl auf der Piazzetta als auch beim alten Tiberius. Kunststück, wenn auf der Insel 99 Prozent der Hotels und Restaurants geschlossen sind, von den Läden der üblichen Luxusmarken ganz zu schweigen. Die haben statt Klamotten nur ihre Labeltaschen mit dem Aufdruck: „Happy to see you next summer“ in die Schaufenster gestellt. Kein Problem, wer braucht das Zeug? Kann man bei Bedarf ja auch am Neuen Wall oder in der Maximilianstraße kaufen, dafür muss man wirklich nicht nach Capri.

Nach Capri muss man wegen des Lichts, denn dieses Licht des Südens, das findet man in solcher Intensität nur hier. Nicht in Südfrankreich, nicht in Rom, noch nicht einmal in Neapel. Es muss die Kombination aus Sonne, Felsen und Meer sein, garniert mit der immergrünen Macchia, den Zitronen, den Bougainvilleen…

Im Bild: Die Via Krupp, erbaut um 1900 von dem deutschen Industriellen Friedrich Alfred Krupp, der auf Capri die schönste und schlimmste Zeit seines Lebens erfuhr, und sich jedenfalls verewigte.

Damals gab es schon Tourismus. Aus dem Norden kamen Leute, die es sich leisten konnten – im Winter. Um dem Dauergrau in der Heimat zu entfliehen. Denn Grau, das sieht auf Capri ungefähr so aus:

Es ist leer, aber aufregend und immer irgendwie mysteriös. Ein einziger Rausch von Landschaft und Farben. Und dann ist diese Insel ja voller Geschichten, als Lieblingstreffpunkt von Dandys, Exzentrikern, Aussteigern…Nichts wie hin, kann ich nur sagen. Gerade in diesen lausigen Zeiten. Stilvoller kann man dem Lärm der Zeit nicht entfliehen.

Tuffo!

Er hat es wieder getan. Maurizio Palmulli, in unserer kleinen Stadt weltberühmt als „Mister Ok“, hat sich zum 33. Mal vom Ponte Cavour in den Tiber gestürzt. Kopfüber, klassischer „tuffo“ mit langestreckten Armen und Beinen, ein eleganter Engelflug. Mit 68 Jahren. Seit 1990 macht er das an jedem Neujahrstag, als Nachfolger von anderen „Mister Ok“, die den mysteriösen Ehrentitel wie ein Feldherr des Imperiums tragen, weil sie, kaum in das bereitstehende Feuerwehr-Boot geklettert, den rechten Daumen zum Zeichen ihres Siegs über Kälte, Scham und Lebensalter recken.

Hoch sei er gepriesen. Nicht nur, dass Palmulli, im Hauptberuf Bademeister in Ostia, mit selbstbewusster Nonchalance die zeitlose Klasse der schwarzen Slip-Badehose vorführt. Ein Tibersprung im neumodischen Flatterteil mit Krokodil- oder Kaktusdruck? Ma per carità, unvorstellbar! Mister Ok, der seinen durchtrainierten Großvaterkörper so unverdrossen in die schmutzigen Fluten wirft, ist ein Held unserer Zeit. Er personifiziert die urrömische Haltung, dass alle Unbill am Ende doch nur den Tiber herunterfliesst in Richtung Ostia. Rom hat alles schon gesehen und lässt sich durch nichts erschüttern. Ewig halt.

Omikron wird abflauen zur Corona-Pfütze, nur der Tiber möge fließen bis ans Ende der Zeit. So blond, wie ihn die Römer verklären, wird er dabei wohl nie werden. Er bionno Tevere, von wegen. Allenfalls straßenköterblond. Oder, wie es hier heißt: Color cane che fugge – Hund, der abhaut.

Ins Blaue

Mit Jahresrückblicken habe ich es nicht so. Lieber nach vorn schauen, wo das Jahr 2022 vor uns liegt, wie eine große, glatte Meeresoberfläche, so blau, wie es sich gehört.

Und ja, der Berg da mittendrin, das ist der Vesuv. Sieht friedlich aus, kann jederzeit ungemütlich werden. Ein Bild von ungeheurer Symbolik! Kleiner Scherz, dieses Foto will überhaupt nichts sagen, außer: Blau.

Denn ins Blaue zu schauen, zu fahren, zu leben, das wäre doch ein ganz gutes Programm für das nächste Jahr. Man lebt immer so grau oder so blau, wie man sich fühlt.

In diesem Sinne: Allen ein gutes, blaues Jahr!

Vino vom Gucci-Mörder

„House of Gucci“ werde ich mir nicht ansehen. Un’americanata, wie wir Römerinnen sagen. Aber weil man allenthalben über die Rezensionen stolpert, fiel mir ein, dass ich ja mal den Gucci-Mörder getroffen und gesprochen habe. Vor Jahren, auf der Gefängnisinsel Gorgona (hier entlang zum alten Post), die Reportage erschien dann im Zürcher „Tagesanzeiger„.

In diesem Lagerraum traf ich Benedetto Ceraulo bei der Arbeit an. Er war dort als Kellermeister für den Florentiner Weinunternehmer Lamberto Frescobaldi im Einsatz. Ein drahtiger Mann mit einem fein geschnittenen Gesicht und einer ruhigen, überlegten Art. Saß da und hielt sich die Wange, in die ihn gerade eine Wespe gestochen hatte. Ich fragte ihn nach seinem Beruf, das erste, was mir einfiel. Man kann nicht einen Menschen mit dem ersten Buongiorno nach seinem Verbrechen fragen, so geht das nicht. „Sagen wir: Maurer.“ Aber als Maurer wurde Ceraulo nicht bekannt, sondern als Killer des Modeunternehmers Maurizio Gucci. Im März 1995 tötete er Gucci vor dessen Mailänder Wohnung mit drei Schüssen in den Nacken und einem ins Gesicht. Auftraggeberin für den Mord war Guccis Ex-Frau, die dem Killer angeblich 500 Millionen Lire gezahlt hatte, umgerechnet etwa eine Viertelmillion Euro. Den letzten Teil seiner lebenslänglichen Haftstrafe (28 Jahre) verbüßt Ceraulo auf der Gefängnisinsel Gorgona, der letzten ihrer Art in Italien und ganz Europa.

Auf Gorgona arbeiten die Gefangenen täglich sechs Stunden, von sieben bis 13 Uhr, in der Landwirtschaft. Das dient auch ihrer Selbstversorgung. Sie melken Kühe, Ziegen und Schafe, sie schlachten ab und zu ein Schwein. Sie versorgen den großen Gemüsegarten hoch über dem Meer, den Salat, die Paprika, Kohlköpfe, Tomaten, Kartoffeln, Auberginen und Artischocken. Sie backen Brot aus dem Hartweizenmehl, das vom Festland gebracht wird. Sie produzieren ihr eigenes Olivenöl und Käse auch für andere Haftanstalten. Der Lohn: Fünf Euro die Stunde.

Seit Lamberto Frescobaldi 2012 zwei Hektar Land zum Weinbau übernahm, wird auf Gorgona auch Vino hergestellt, zunächst nur Weißer, neuerdings auch Roter. Der Weiße ist ein schöner, runder Sommerwein und mit rund 70 Euro pro Flasche natürlich maßlos überteuert. Die Herstellung auf der Insel, erklärte der Marchese, sei derart kompliziert, dass die Kosten gerade gedeckt würden.

Zum Mittagessen auf Gorgona hatte Frescobaldi damals einen anderen Weißwein mitgebracht. Ein Gefängniswärter hatte für uns gekocht, es gab Pasta mit Hummer und danach Thunfisch, alles selbstgefischt aus dem unfassbar blauen Meer um die Insel. Es war das definitiv beste Fischessen meines Lebens und es ist mir stärker ins Gedächtnis eingebrannt als die Begegnung mit dem Gucci-Killer – was daran liegt, dass Frescobaldi mich erst auf der Rückfahrt im Polizeiboot über die Vergangenheit seines Mitarbeiters aufklärte: Löblich. Ich hätte ihn allerdings sowieso nicht danach gefragt.

An Benedetto Ceraulo wird der Hype um den Lady-Gaga-Blockbuster vorbeigehen, wenn er denn noch auf der Insel ist. Es gibt kaum einen besser abgeschotteten Ort als Gorgona, erst recht im Winter. Man ist da wirklich komplett aus der Welt.

Play it again, Jeremy

Mein römisches Viertel, der Esquilin, wird gerade ein bisschen gentrifiziert. Szene-Café im Ex-Hutladen, Bars mit Sieben-Euro-Wein, Restaurants ohne Pastagerichte, die übliche Soße also. Vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung ist der Bäcker um die Ecke, puristische Einrichtung, vier Laibe Brot im Regal, ein Stückchen Strudel für vier Euro. Un’ipsterata, sagen die Kinder dazu: Hipsterkram.

Aber noch sind wir vom Prenzlberg Lichtjahre entfernt und mitten im prallen Leben. Gestern erst kam der Lieblingsrömer nach Hause und entwickelte folgende, philosophische Betrachtung: Er habe vor der Haustür ein Grüppchen saufender junger Männer angetroffen, alle Afrikaner und offenbar schon ziemlich besoffen. Prompt sei er in Versuchung geraten, sie zu ermahnen, sogar mit der Polizei zu drohen. Doch dann sei ihm noch rechtzeitig eingefallen, dass die Einheimischen exakt 30 Meter weiter rechts, vor der angesagten Enoteca, ja genau das gleiche täten. Nur halt Wein statt Maurerbier und an Designertischen.

An unserem Platz schlafen im Winter wieder mehr obdachlose Menschen, weil die Arkaden wenigstens Schutz vor Regen bieten. Es sind auch zwei Rollstuhlfahrer darunter. Sie hieven sich abends aus ihren Rollstühlen, legen sich auf Kartons, decken sich mit Wolldecken zu. Natürlich haben die Armen kein Klo und keine Dusche. Deshalb riecht es manchmal nicht gut vor unserer Haustür.

Und hier kommt Jeremy ins Spiel. Ein junger Holländer, lange, blonde Haare. Jeremy putzt die Arkaden, hingebungsvoll. Frühmorgens hebt er die Schlafkartons der Armen auf, faltet sie sorgfältig zusammen, verstaut sie an einem Pfeiler. Dann fegt und wischt er den Marmorboden, ebenso schwungvoll wie leise. Es sieht derart anmutig aus, dass wir es anfangs für eine Kunstaktion hielten. Ein Schälchen für den Obolus steht in dezenter Entfernung, wir gaben zwar etwas, hielten es aber für einen Teil der Installation.

Jeremy ist tatsächlich ein Künstler. Er spielt Geige und lebt davon. Auf der Straße.

In unserem Viertel haben ihn ein paar Typen angegriffen, ihn mit Messerstichen verletzt und ihm seine Geige geklaut. Anstatt Musik zu machen, hat Jeremy, kaum aus dem Krankenhaus entlassen, putzen müssen, um ein bisschen Geld zu verdienen.

Als seine Geschichte die Runde machte im Viertel, das in solchen Angelegenheiten funktioniert wie ein Dorf, fiel einem jungen Mann die Geige ein, die seine Freundin ihm geschenkt hatte. Der Junge hatte das Instrument in den Schrank gestellt und vergessen. Bis er von Jeremy hörte. Schrank auf, Violine raus, weiterverschenkt an den putzenden Holländer, der jetzt nicht mehr wischt, sondern fiedelt, wie es sich gehört.

Sound of Piazza Vittorio.

Dante im Altglas

Rom hat einen neuen Bürgermeister, und der räumt gerade mächtig auf. Also nicht er persönlich, sondern die Müllfrauen und Straßenfeger im Dienste von SPQR. Müllcontainer, die gefühlt seit Jahren überlaufen, werden plötzlich allnächtlich geleert, wobei man nicht so genau weiß, wo der Abfall hinkommt, denn die städtische Deponie ist eigentlich seit Ewigkeiten voll. An jeder Ecke werden Besen geschwungen und – nicht zu vergessen – Knöllchen verteilt. Natürlich haben wir auch schon eins aus der neuen Ära, ergattert vom Lieblingsrömer, dessen Fertigkeit, in winzigste Parklücken hineinzufinden, von mir gar nicht genug bewundert werden kann. Staunenswerter ist höchstens, wie er seine 1,90 Meter mit unverändert jugendlichem Schwung in den Panda faltet. Wenn es sein muss, parkt dieser Mann auch hochkant, aber diesmal war wohl nichts zu machen, drei Zentimeter Zebrastreifen und klatsch: Knöllchen. Natürlich richtig und schon bezahlt. Ablass, wem Ablass gebührt.

Der Lieblingsrömer kann noch was, was ich überhaupt nicht kann: Dante. Also die wichtigsten Stellen der Commedia auswendig. Er kennt das ganze Dante-Personal, aus Hölle, Fegefeuer, Paradies. Ich hingegen hätte bei der Mittelalter-Abschlussprüfung an der Uni am liebsten den Joker angerufen, als die Frage kam, ob Dante Heinrich VII. in den Himmel oder die Hölle versetzt habe. Tja. Zwar hatte ich zur Vorbereitung sämtliche 300 Kirchen Roms abgegrast, aber auf Dante war ich nicht gekommen. Es war eine Fifty-Fifty-Sache und ich riet richtig: Himmel.

Meine italienische Familie hätte es gewusst. Nicht nur der Mann, auch die Kinder haben auf dem Gymnasium Dantes Commedia studiert, unsere Tochter sogar drei Jahre lang. Drei Jahre für eine Wochenstunde inferno, purgatorio, paradiso. Das Paradies ist langweilig, um das zu wissen, braucht man keinen Joker. Die Hölle sei aber super, sagen sie. Glaube ich sofort. Limbus gibt es bei Dante auch, durch ihn flanieren etwa Homer und Ovid. Ein gewisser Joseph Ratzinger hat diese lichte Vorhölle, hier besungen von meinem gelehrten Freund Reinhard Dinkelmeyer, als Benedikt XVI. abgeschafft. Da muss man drauf kommen. Ovid, schon von Augustus nach Rumänien verbannt, jetzt dank Ratzinger im Orbit. Mich würde nicht wundern, wenn B 16 als Emeritus Fack ju Göthe streamt.

Zurück zu Dante und dem römischen Abfall. Jawohl, da gibt es einen Zusammenhang.

34 Altglascontainer im Quartiere Aurelio, das an den Vatikan angrenzt, wurden von KünstlerInnen mit Motiven zu Dantes Hölle gestaltet. Hier oben etwa sieht man Violetta Carpinos „Habgier“, die Dante in den vierten Höllenkreis verweist.

„Chè tutto l’oro ch’è sotto la luna

e che già fu, di quest’anime stanche

non poterebbe farne posare una…“

Alles Gold, das jemals unter dem Mond

ist und war, kann von diesen ermatteten Seelen

nicht eine zur Ruhe kommen lassen.

Nicht die Hölle ist überall, sondern die Literatur. Jedenfalls in Italien.

Martins Sommer

Ein Frühlingslüftchen weht durch Rom, 25 Grad. „Estate di San Martino“ heißt das hier. Der Sommer des heiligen Martin, der am 11. November seinen Namenstag hat. In meiner Kindheit war der Martinstag außer mit fetten Gänsen immer mit Laternenzügen (wochenlanges Basteln) und der anschließenden Messe samt Ausgabe süßer Martinsbrezen verbunden. Letztere hat uns der katholische Priester mal vorenthalten, weil wir Geschwister nicht katholisch waren. Brezen nur für rechtgläubige Kinder! Klingt nach Mittelalter, war so, in den 1970ern auf dem Land in Westfalen. Manchmal frage ich mich, wie es eigentlich den Leuten geht, die noch nie zu einer Minderheit gehörten. Also, die verpassen was.

Zurück in die Hauptstadt des Katholizismus. Martinszüge gibt es hier nicht. Martinsbrezen auch nicht. Aber den Sommer des heiligen Martin und die dazu gehörenden Frühlingsgefühle.

Gesehen heute morgen auf einem Pfeiler des uralten Ponte Cestio zwischen Tiberinsel und Trastevere.

„Ewiger als Rom.“ Wir, unsere Liebe. Und der Fluss und der Travertin.

Friedhof der Stare

Sogar im November ist der Campo Verano, Roms Monumentalfriedhof im Stadtteil San Lorenzo, ein verwunschener und fast verlassener Ort. Nur wenige Menschen sind unterwegs zu den Gräbern ihrer Lieben – was auch damit zusammenhängen mag, dass hier nur noch zwei Mal in der Woche Beerdigungen stattfinden. Es gibt keinen Platz und keine neuen Gräber. Roms Zentralfriedhof ist längst der Cimitero Flaminio weit außerhalb der Stadt, eine Toten-Metropole mit Grabhochhäusern.

Der Verano ist eine andere Liga. Gediegenes Bürgertum mit viel Sinn für Marmor und durchaus auch für Exzentrik. Letzeres abzulesen an verspielten Miniaturtempeln und lebensgroßen Statuen der Verstorbenen. Anonyme Bestattungen gibt es hier gar nicht, was die Römer einmal mehr als Kulturvolk ausweist.

In der Arciconfraternita del Preziosissimo Sangue sitzen ein paar Herren bei Getränken aus Pappbechern. Was meine Fantasie gleich in Richtung Gelage beflügelt, inspiriert von Mathias Enards grandiosem Totengräber-Bankett, einer fantastischen November-Lektüre übrigens. Zumal die Erzbruderschaft vom Wertvollsten Blute sich auf ein Stück Stoff bezieht, das in die offenen Wunde Christi getunkt wurde, um anschließend auf wundersamen Wegen nach Rom zu gelangen. Eine Story wie von Enard oder gleich von Rabelais erfunden. Aber sehr wahrscheinlich wird auf dem Verano nur Kaffee getrunken, denn diese römischen Erzbrüder machen bei aller Aufgeräumtheit einen ziemlich nüchternen Eindruck.

Und während man durch die stille Totenstadt wandelt, verwitterte Inschriften entziffert, rührende Widmungen liest, ertönt auf einmal ein lautes Wuschsch!

Es sind die Stare.

Wie auf Kommando kommen sie aus den Zypressen hervorgeschossen, zum ausschweifenden Formationstanz im Abendhimmel. Es sind Tausende, ihr aufgeregtes Gezwitscher erfüllt die Luft, ihr Flügelschlag belebt die starre Friedhofsruhe. Die Stare fliegen in den Sonnenuntergang, eine Demonstration von Schönheit und Lebenslust.

Gefällt aber nicht jedem. „Maledetti“ knurrt ein alter Signore, während wir zum Ausgang streben. Die verfluchten Vögel. Der Kot, der Dreck. So ist es halt immer, die einen gucken in den Himmel und die anderen auf den Boden, jeder findet dann, was er sucht. Die Stare lässt es kalt, sie schwingen sich zu immer neuen Flugbildern auf, die sich in Sekundenschnelle auflösen und dann, in einem großen Wusch! verschwinden sie wieder in ihren Zypressen. Aus den Bäumen ertönt ein riesiges Geschnatter, jede Starenzypresse ein Lautsprecher.

Bei Sonnenuntergang beruhigt sich alles. Vielleicht scheint es auch nur so, denn die großen, eisernen Friedhofstore werden geschlossen, der Verano bleibt still für sich.

Doch es ist noch Zeit für eine kurze Visite auf dem Kapitol, bei Santa Maria in Aracoeli. Hier befindet sich nämlich eine ganz wunderbare Hinterlassenschaft des antiken Glaubens an die Aussagekraft des Vogelflugs. Im Längshaus stammt die dritte Säule linkerhand vermutlich aus dem Auguraculum, dem nahe der heutigen Kirchenapsis ansässigen Beobachtungsposten der Auguren. Das waren die Deuter des Vogelflugs, die aus den Bewegungen der Tiere das Schicksal der Stadt und ihrer Herrscher herauslasen.

In die Säule ist auf Augenhöhe ein Loch gebohrt. Der Kanal führt schräg nach oben. Ein Ornithologen-Fernrohr, 2000 Jahre alt.

Julius Caesar hatte die Anzahl der Auguren auf 16 festgesetzt, schließlich handelte es sich um eines der wichtigsten Ämter der Stadt. Bis weit ins 4. Jahrhundert, das Christentum war schon auf dem Vormarsch, trafen sich die Auguren einmal monatlich auf ihrem Posten im Kapitol zu Beratungen. Vermutlich verhandelten sie, wie man wem welche Wahrheiten einschenken sollte, schließlich konnten sie den lieben Vögelchen eine Menge zuschreiben. Die Macht der Seher.

Heute sagt man in Rom „auguri“, wenn man jemandem Glück wünschen will. Und so sind die Auguren genauso ewig wie der Flug der Stare.

Cave Canem

Alljährlich im Sommer berichten italienische Zeitungen über ein wiederkehrendes, grauenhaftes Ereignis: Rudel verwilderter Hunde greifen Menschen an, verletzen sie schwer, töten sie manchmal sogar. Zuletzt geschehen in Satriano, unweit der jonischen Küste in Kalabrien, wo etwa 15 Hunde in einem Waldstück ein junges Paar attackierte. Der Mann konnte sich retten und einen Hilferuf absetzen. Die 20-Jährige Frau wurde von den Tieren gebissen und verblutete.

Sie ist schon das dritte (bekannte) Hunde-Opfer in diesem Jahr. Im Frühling wurde ein 80-Jähriger bei Neapel beim Wildspargel-Suchen von einem Rudel „Wildhunde“ angegriffen und getötet. In Ligurien starb ein dreijähriges Kind an den Bissen von Pitbulls – keine Streuner, sondern im Besitz der Nachbarn. Pitbulls und andere Kampfhunde dürfen in Italien von allen gehalten werden, nachdem ein 2006 erlassenes Gesetz, das die Zucht besonders aggressiver Hunderassen limitieren sollte, schon 2009 wieder abgeschafft wurde. Mit der Begründung, es sei wissenschaftlich nicht erwiesen, dass manche Rassen aggressiver seien als andere. Gesetzlich verboten ist es seither lediglich, Hunde mit dem Ziel zu züchten, sie aggressiver zu machen.

Ein Gummiparagraph, denn in gewissen Kreisen gehört es zum guten Ton, sich mit hündischen Kampfmaschinen zu umgeben. Und natürlich auch, die Leinenpflicht zu ignorieren, womit die Machos der Mafia allerdings in allerbester Gesellschaft sind. In unserem Dorf legt kein Mensch seinen Hund zum Gassigehen an die Leine, tierische Hinterlassenschaften werden nicht aufgehoben und verpackt, wir leben ja schließlich nicht in der Stadt.

Manche verstehen unter „Auslauf“, dass sie einfach das Hoftor öffnen, damit ihre Tiere sich ein wenig in der Dorfgemeinschaft umschauen können. Andere legen ihre Hunde an die Kette, obwohl das bei Strafe verboten ist. Nachts kläffen diese armen Viecher, die mutterseelenallein Gemüsegärten oder Geräteschuppen „bewachen“ sollen, verzweifelt im Chor mit den sogenannten „Trüffelhunden.“ Letztere warten in dunklen Verschlägen darauf, dass ihr Besitzer sie zum Edelpilz-Erschnüffeln ausführt. Oder zur Singvogeljagd, Eröffnungsschießen am 1. September. Die Jagdsaison ist nach der Ferienzeit in Sommer übrigens der Zeitraum, in dem die meisten Hunde ausgesetzt werden. Jagdhunde, die nicht jagen können, sich also als untauglich erweisen, werden wie Ballast abgeworfen. Wir reden hier von Umbrien, also jenem Teil des Landes, der allgemein als civilizzato gilt.

Das Hundeleben in Italien ist weitgehend wirklich ein Hundeleben. Die Zahl der Streuner ist vor allem im Süden des Landes Legion, obwohl das Aussetzen von Haustieren mit Haft bis zu einem Jahr und Geldstrafe bis zu 10.000 Euro geahndet wird. Das Problem ist nur, dass kaum jemand erwischt wird, und so werden ganze Würfe mit acht bis zehn Welpen einfach am Straßenrand „entsorgt.“ Das nächste Problem: Kommunen und Amtstierärzte, die vom Gesetzgeber für die Erfassung und Sterilisierung von Streunern verantwortlich gemacht werden, sind mit der Aufgabe vollkommen überfordert.

Um Italiens Straßenhunde kümmern sich Dutzende von Tierschutz-Organisationen. Das Netz quillt über von Fotos süßer Welpen, die Adoption im Norden suchen. Südlich von Rom werden grundsätzlich keine Tiere vermittelt, dafür landen gar nicht wenige in Deutschland.

Aber allzu viele bleiben hinter Gittern oder gleich auf der Straße. Letzteres sollte man wissen, bevor man zu einsamen Spaziergängen auf menschenleeren, sizilianischen Stränden, zum Wandern durch die Abruzzen oder die wunderbaren kalabrischen Wälder aufbricht. Es ist tatsächlich nicht ungefährlich.

Cave canem. Verantwortlich dafür natürlich: Der Mensch.