Wer wird denn gleich sterben

Civita di Bagnoregio ist der beste Beweis für die Gültigkeit des alten Bonmots, dass Totgesagte länger leben. Seitdem sich das 16-Einwohner-Dorf zwischen Lago di Bolsena und Tiber, Orvieto und Viterbo den Titel „Città che muore“ (sterbende Stadt) verliehen hat, ist es so quicklebendig wie seit Ewigkeiten nicht. Jahr für Jahr kommen um die 600.000 Touristen nach Civita, das sind gut 1600 pro Tag, Winter mitgerechnet. In Civita brummt also der Bär! Wir konnten uns am letzten Samstagabend davon überzeugen, 12. September, eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang: Ein einziger freier Parkplatz, hunderte von Touristen unterwegs. Alle haben brav ihre fünf Euro Eintritt gezahlt, um über die 200 Meter lange Brücke zu spazieren, die Bagnoregio mit Civita verbindet. Um auf der anderen Seite….ein italienisches Dorf zu sehen. Tuffsteinhäuser, zwei Kirchen, ein wuchtiger Palazzo, eine Piazza und, okay, das vermutlich einzige Erosionsmuseum im Land. Abgesehen von diesem Museo delle frane ist Civita ein Kaff wie jedes andere. Es gibt hunderte, ach was tausende davon in Mittelitalien. Hügelkuppe, obendrauf die Siedlung mit Vorgeschichte (Etrusker, Römer, Longobarden etc.), drumherum viel Landschaft, alles begossen mit reichlich Olivenöl und Vino.

Wieso also Civita? Na, deshalb:

So malerisch ist dann halt doch selten.

Civita liegt auf einem Tuffsteinhügel, umgeben von wilden Calanchi, so genannten Badlands, wüsten, interessant durchfurchten Sandsteinformationen. Der Siedlungsfelsen war einst dreimal so groß und im Mittelalter von 3000 Menschen bewohnt. Dann begann das große Bröckeln, weil unten die beiden Flüsse Rio Chiaro und Rio Torbido (der klare und der trübe Fluss, herrlich!) an dem weichen Tuffstein nagen, vor allem aber weil es immer mal ein Erdbeben gibt, das im Rest der Gegend für keine größere Aufregung sorgt, hier aber schon.

Also nichts wie weg. Das machte schon der heilige Bonaventura so, der 1217 hier geboren wurde und mit kaum 18 Jahren die Flucht ergriff. Ab nach Paris, Theologie studieren, dann kann man Kardinal und schließlich Heiliger werden. Weil das heute nicht mehr ganz so einfach und vielleicht auch nicht mehr so attraktiv ist, gehen die Leute von Civita zum Studieren nach Mailand und Rom oder bleiben in Bagnoregio (3600 Einwohner) und verdienen ihr Geld mit den vielen Touristen.

Frühstückspension, Restaurants, Bruschetta-Buden, Souvenirläden, Acqua di Civita (Civita-Wasser, so heißt ein Parfum). Etruskergrotte und Blick aus dem Gärtchen gegen Eintritt.

Civita ist eine italienische Erfolgsgeschichte. Du hast nichts, also mach‘ was draus. Erfinde eine Geschichte. Setze eine Marke in die Welt. Lade ein paar Journalisten ein, vor allem aber Fotografen. Und du wirst sehen, die Sache läuft.

Seit 20 Jahren wird renoviert und eröffnet, seit sieben Jahren gibt es den Brückeneintritt. So haben alle was davon, auch die Gemeinde.

Und ehrlich gesagt, ist der Tuffstein wirklich schöner als anderswo.

Bei Perugino

Pietro di Cristoforo Vannucci, wahrscheinlich 1448 in Città della Pieve geboren, wurde als „Perugino“ einer der berühmtesten und begehrtesten Maler seiner Zeit. Er arbeitete in Florenz mit Leonardo, Ghirlandaio, Filippino Lippi, Botticelli und Pinturicchio zusammen und malte als 30-Jähriger in der Sixtinischen Kapelle, wo seine „Taufe Christi“ als einziges der großen Fresken eine Signatur trägt.

Damals strotzte der divin pittore (göttlicher Maler) vor Selbstbewusstsein. Alle wollten seine lieblichen Madonnen und edlen Heiligen, die er stets elegant gekleidet, sorgfältig frisiert, mit geradem Rücken und beseelt-gelassenem Gesichtsausdruck in der sanften Landschaft seiner Heimat Umbrien platzierte. Blaue Hügel, pastellgrüne Wiesen, hier und da ein Bäumchen und am Horizont der Lago di Trasimeno, das wurde Peruginos Markenzeichen. In späteren Jahrhunderten galt das als dekorativ, was nicht besonders anerkennend gemeint war. Mit etwas mehr Empathie kann man bei Perugino heitere Seelenlandschaften entdecken, perfekt für harmoniesüchtige Gemüter wie mich. Mir gefällt er allemal besser als sein Schüler Raffael oder der noch viel harmonischere Kollege Botticelli.

Also auf nach Città della Pieve. Mehr Dorf als Stadt, auf der Grenze zwischen Umbrien und Toskana gelegen, charakteristisch durch mittelalterlichen Ziegelsteinbauten. 7000 Einwohner, der berühmteste zurzeit Colin Firth. Und drei Peruginos, passend für einen gemütlichen Spaziergang an einem halbwegs frischen Julimorgen.

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Das Fresko „Anbetung der Heiligen Könige“, befindet sich im winzigen Oratorio di Santa Maria dei Bianchi. An den Wänden der Kapelle hängen noch die schwarzweißen Kutten der Ordensbrüder, die sich auch „Kompanie der Disziplinierten“ nannten. Anfang des 16. Jahrhunderts war diese Bruderschaft so wichtig, dass sie es sich erlauben konnte, bei Perugino anzuklopfen. Dafür, ihn angemessen zu bezahlen, scheint es dann allerdings nicht gereicht zu haben. Der Maler verlangte 200 Gulden und war nach langem Hin und Her bereit, für die Hälfte zu arbeiten, quasi als Geschenk für seine Heimatstadt. Den lieben Landsleuten aus Città della Pieve war das aber nicht entgegenkommend genug. Sie handelten den Malerstar auf 75 Gulden herunter. Um nicht vollends sein Gesicht zu verlieren, forderte Perugino, dass man ihm wenigstens ein Maultier für die Anreise aus Perugia schicken möge. Das immerhin wurde ihm gewährt.

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Das Gefolge der Könige malte Perugino als langen Zug der Ritter, sogar ein Falkner ist dabei. Ansonsten sieht man wie üblich viel Wiese und flaches Wasser, verklärte Gesichter und schöne Stoffe. Das Jesuskind ist aparterweise größer als ein Schaf (ich arbeite seit Jahren an meiner Sammlung ungestalter Jesuskinder großer Maler) und der Esel stämmiger als der Ochs (der Esel in der Kunstgeschichte wäre auch mal einen Aufsatz wert).

Wahrscheinlich hat Perugino das gar nicht selbst verbockt, sondern der für Jesuskinder und Tiere zuständige Gehilfe aus seiner Werkstatt. Der Meister war für Gesichter und allenfalls noch Füße zuständig – und die stimmen. Tatsache ist aber auch, dass Peruginos Stern 1504, als er für die Diszplinierten arbeitete, gerade dabei war zu verblassen. In Mantua hatte Markgräfin Isabella d’Este über einen von ihr in Auftrag gegebenen „Kampf zwischen Amor und Keuschheit“ das Näschen gerümpft. Perugino hatte es gewagt, eine nackte Venus ins Bild zu bringen – und überhaupt, falsche Technik und falsche Interpretation. Zu einem Platz im Louvre hat es später allemal noch gereicht, aber Isabellas Kritik sprach sich rasch bei Adels herum und die Aufträge für Perugino brachen ein.

So richtig hat er sich nicht mehr davon erholt. Der „Göttliche“ war einfach nicht mehr angesagt. Im Dom seiner Heimatstadt hinterließ er zwei weitere Werke. Eine Taufe und ein Heiligendefilee, erstere ganz gelungen, letzteres naja.

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Der Jordan ist hier eher ein Teppich als ein Fluss. Sieht aus, als hätte der verblüffend staubfreie Johannes das Taufwasser im Fläschchen mitbringen müssen. Vielleicht war in der Flasche auch Eau Sauvage von Dior, denn die glatte Brust des wilden John duftet einem richtiggehend aus  dem Bild entgegen. Und seine Kombi aus leichter Fellweste und lässig drapierter Purpurseide könnte er grandios im Mailänder Herbst tragen.

In der Krypta des Doms findet sich sehr versteckt der Rest eines Freskos von Benozzo Gozzoli. Nur als Hinweis für Kenner.  Man erkennt Adam und Eva beim Sündenfall, aber der Hammer ist die Blumengirlande rechts. Renaissance-Flowerpower!

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Città della Pieve ist also wirklich etwas Besonderes. Wo sonst auf der Welt heißt der Platz vor dem Dom Piazza Antonio Gramsci? Wo sonst gibt es noch Metzger, bei denen man aus dem Verkaufsraum in die Küche schauen kann – auf Berge von frischer Salsiccia, die da gerade mit Bindfaden abgeschnürt wird? Marco Rosi heißt der macellaio, er verkauft auch Safran, der in den Hügeln um die Stadt (wieder) angebaut wird. Und als wäre das alles noch nicht sympathisch genug, sind die Pievenser (?!) auch noch lustig kreativ.

Ob das Colins Firths Regenrinne ist?

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Quatsch, der hat sicher ein Anwesen in der Campagna. Zypressen, Zikaden, Pool und was man als Weltstar noch so braucht. Vielleicht kauft er ja seine Zeitungen hier:

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Gibt es auch in Italien kaum noch, solche Läden. Kleine Zeitreise in eine Welt, da die Maler noch auf Maultieren reisten. Für mich geht’s zurück mit dem Auto, ein Stündchen durch die Hügel. Die Landschaft des Perugino.

 

 

 

Villa Lante

In diesem Sommer also Entdeckungstouren vor der eigenen Haustür. FreundInnen erzählen begeistert von Rundgängen durch die nahezu leeren Vatikanischen Museen, wo auf einmal nicht mehr 20.000 BesucherInnen pro Tag unterwegs sind, sondern nur noch 200. Kein Wächter trompetet mehr „Silenzio!“ in der Sistina, weil es da sowieso schon so still ist. Endlich in Ruhe Michelangelo gucken! Und Luca Signorelli, Perugino, Ghirlandaio, Botticelli. Demnächst. Im Sommer bleibe ich ja dann doch lieber draußen. Zum Beispiel in der Villa Lante.

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Genauso frisch wie auf dem Bild ist es dort wirklich, an einem heißen Julimorgen. Dabei sind gar nicht alle Brunnen in Betrieb, aber die Lage in der Hügellandschaft um Viterbo, ein leichter Wind und die Schatten der alten Bäume reichen schon für Linderung. Die Villa Lante ist ein ziemlich kleiner Park,  für die winzige Ortschaft Bagnaia jedoch schon überdimensioniert.

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Die Provinz Viterbo ist ein Nest des Manierismus. Reiche, von der Esoterik angehauchte Landadelige engagierten allenthalben phantasievolle Landschaftsarchitekten, die je nach Neigung der Kundschaft Ungeheuer (Bomarzo) oder Labyrinthe und formenreiche Brunnen in großzügig bepflanzte Parks drapierten. In Bagnaia war um 1570 der Gartenbauer Jacopo Barozzi am Werk, beauftragt von Kardinal Giovanni Francesco Gambara. Der Kirchenmann war Mitte Dreißig, als er die Verwaltung von Viterbo und Tuscania übernahm, ein ziemlich großes, aber relativ dünn besiedeltes Gebiet voller dichter Wälder und tiefer Seen zum Jagen und Fischen.

Vor den Toren von Viterbo ließ sich Gambara eine kleine Jagdvilla mit Park erbauen, klein, ja intim aber voller Raffinesse. Hier ein kleines Gartenhäuschen – das Haupthaus mit der fantastisch freskengeschmückten Loggia ist leider seit Jahren geschlossen. Pertsonalmanhel! Im Moment passen drei gemütliche ältere Herren mit baumelnden Gesichtsmasken auf Park und Publikum auf.

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Als Gambara 1587 starb, erbte den Besitz Kardinal Alessandro Peretti di Montalto, der sich prompt ein zweites Haus in den Park pflanzen ließ. Peretti ging in die Kirchengeschichte ein, weil er schon mit 14 Jahren zum Kardinal ernannt wurde. Als er Bagnaia übernahm, war er immerhin 17 und sich seiner Würde offenbar schon sehr bewusst. Angesichts der heutigen Gerontokratie in der Römischen Kirche vergisst man leicht, wie jung Kurienmänner und Päpste früher waren, ganz selbstverständlich zu Pferd unterwegs und das meistens gut bewaffnet. Ätherische Gestalten wie Benedikt XVI waren eher selten, es ging ja schließlich auch weniger um himmlische Fährnisse als um weltliche Macht. Altmänner-Gespinste wie der Verzicht auf Sex oder Fleisch am Freitag haben Typen wie Gambara, Peretti aber auch ihre Vorgesetzten nicht die Bohne interessiert, und Martin Luthers Stänkereien sind in Viterbo bis heute nicht angekommen. Lieber lud man als junger Kirchenfürst Gäste zu rauschenden Gartenpartys ein, platzierte sie an einem langen Tisch mit einem Wasserlauf in der Mitte und tafelte im Schein von 14.000 Kerzen.

 

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Der ganze Park evoziert spielerisch das Miteinander von Kunst und Natur. Ein Evergreen! Der Park und seine Brunnen sollten so natürlich wie möglich wirken, geschafft haben die Architekten des 16. Jahrhunderts das sicher mit diesem Nymphäum:

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Man muss es nur anschauen, und schon kühlt die Körpertemperatur ab! Was das anging, hatte Kardinal Peretti noch ein anderes, eiskaltes Geheimnis. Er ließ im Winter Schnee in eine zehn Meter tiefe Höhle schaufeln, die er im Sommer als Kühltruhe benutzen konnte. So schmeckte auch der Weißwein aus dem benachbarten Montefiascone besser…

Villa Lante

Via Jacopo Barozzi 71, Bagnaia

Tel. +39-0761-288088, Tgl. außer Mo von 8.30 bis 19.30 Uhr, 5 Euro. Maskenpflicht!

 

Roma capoccia

Es ist heiß. Und es ist leer. Am frühen Morgen ist es noch nicht so heiß, aber dafür noch leerer, also die beste Zeit zum draußen sein. Heute mal zu Fuß, das Fahrrad ist im Hof angeschlossen, aber der Sohnemann hat den Schlüssel verklüngelt. Zum Rad und zu den zwei Türen davor. Zahnarzttermin mit Nervtötung erst um 11 Uhr, also ist man um halb sieben strahlender Laune.

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Ist ja auch schön, oder? Mit dem Rad wäre es schöner, schon wegen der leichten Brise. Aber auf dem Rad sieht man nicht so viel wie zu Fuß. Zum Beispiel diesen Blumenkübel vor dem Kolosseum:

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Okay, der Zoom ist ein bisschen ungerecht. Schließlich stehen hier gleich drei von diesen Dingern, sorgsam aufgereiht.

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Die E- Roller gehören mittlerweile auch zum Stadtbild. Man muss verdammt aufpassen,  nicht umgefahren zu werden, vor allem aber, nicht über die Dinger zu stolpern. Immerhin ist das aber viel einfacher zu Fuß. Denn mit dem Rad hätte ich hier tatsächlich ein klitzekleines Problem:

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Soviel zu Rom als neuer Radlerhauptstadt. In Wirklichkeit entwickelt sich die Stadt gerade zur neuen Metropole der Monopattini – klingt das nicht viel netter als E-Roller? Ach so, hier auf dem Weg vom Kolosseum zum Circus Maximus. Da soll demnächst auch die U-Bahn direkt verkehren. Also irgendwann demnächst.

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Ich bin immerhin schon so lange in town, dass ich mich noch an eine Zeit ohne diese Baustelle erinnere. Allerdings war das Kolosseum da auch noch altersschwarz. Man konnte damals einfach so das Augustus-Forum sehen. Das waren Zeiten! Heute geht das nicht mehr, höchstens sehr früh morgens, wenn man die Absperrungen ignoriert.

Vorhang auf:

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Was das soll? Nun, ein gewisser Alberto Angela, TV-Moderator einer Wissenschaftsshow, hat sich an den interessantesten Ausgrabungsplätzen Italiens die Rechte für seine Multimedial-Märchenstunde vor zahlendem Publikum gesichert. Der Mann ist der unumstrittene Boss der Geschichts-Verkitschung, übrigens schon in zweiter Generation, denn vor ihm hatte sein Vater Piero das übernommen. Das derlei Monopole erstens überhaupt bestehen und zweitens auch noch vererbt werden, wäre anderswo undenkbar. Hier aber versperrt die absurde Tribüne für die abendliche Lightshow nicht nur monatelang den Blick auf das Forum, sie verschandelt auch eine einmalige Stadtlandschaft. Und das, obwohl sie auch abends leer bleibt!

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Wobei….Stadtlandschaft? Mitten in Rom kann man sich neuerdings sein Mittagessen zusammensammeln. Rucola sprießt direkt am Kolosseum. Die lichtblau blühende Cicoria – also die deutsche Wegwarte – ein in der römischen (Restaurant)-Küche sehr beliebtes Gemüse, hat sich neuen Lebensraum an der Forenstraße erobert. Früher hatten wir mal StadtgärtnerInnen. Jetzt haben wir die Fünf Sterne im Rathaus. Und das Kraut sprießt überall, wie es will. Genau wie der Müll.

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Wenn die Stadt so leer ist, könnte man sie doch glatt mal aufräumen. Für uns RömerInnen, damit wir es in diesen harten Zeiten ein bisschen netter haben.

Welch ein naiver Gedanke auf einem Morgenspaziergang durch die schönste Stadt der Welt. Was ich übrigens nicht fotografiert habe: Die Hundescheißepäckchen auf den Fensterbänken verschlossener Hotels. Die überall achtlos hingeworfenen Atemschutzmasken. Die Matratze auf dem Bürgersteig unweit von Neros Goldenem Haus, Nachtlager für arme Menschen.

Und jetzt ab zum Zahnarzt.

 

 

Rome again

Piazza Vittorio, um sechs Uhr nachmittags, Parkplatz direkt vor dem Haus. Scheint also keiner da zu sein. Außer einer Gruppe von Männern, mittelalt, alle mit Bierflasche, schon ein bisschen angezwitschert. Ich lade das Auto aus, komme zurück, um die Auflaufform vom Beifahrersitz zu holen.

„Aho, Signò“ sagt einer, „Signora“ ist gemeint. „Haben Sie Lasagne gemacht oder was?“ Ich murmele nein, er hört mich nicht hinter meiner Maske. „Signò, Lasagne?“ – Da stößt ihn der nächste an: „Dottoressa???“

Rome again. Ich wusste gar nicht, wie sehr ich das vermisst habe. Steht alles noch. Andererseits ist auch einiges passiert.

Die Wahrsagerin unten zum Beispiel, ist schon auf dem neuesten Stand. Das „Vergangenheit gratis“-Schild hat sie abgebaut, wer will schon zurück schauen, in diesen Zeiten, no grazie, auch nicht für umsonst. Stattdessen: Plexiglasbarriere, zwischen zwei fetten Zylindern. Und Telefonservice.

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Die chinesische Weinhandlung hat jetzt draußen Tische aufgestellt, das Café daneben sich verbreitert. Es gibt ja Platz genug unter den Arkaden.

Rom ist leer. So leer. In Deutschland scheint man das ja toll zu finden, die leeren italienischen Städte. Venedig leer! Nix wie hin. Florenz! Nur wir auf dem Ponte Vecchio, super! Im Grunde sind die Deutschen Waldmenschen geblieben, vermutlich die einzigen auf der Welt, die auch in der Stadt nur die Vögel zwitschern hören wollen.

Auf der Piazza Vittorio haben die grünen Papageien schon vorher den Verkehrslärm übertönt. Jetzt hört man auch die Mauersegler. Der Hinterhof ist so, sagen wir: lebendig wie eh und je. Die eine Bangla-Familie fängt um Punkt zehn Uhr morgens an mit der großen Knoblauchrösterei, die andere kocht gegen 23 Uhr interessanterweise ganz ohne Knofel. Der Mark erschütternde Husten des Alten von gegenüber ist hunderprozentig nicht Corona und wird konsequent weiter am offenen Fenster verabschiedet. Der eine Nachbar schaut den ganzen Tag RAIuno, die andere, mit Radio Maria, ist verstummt.

Unterwegs, in der Nacht, ist man wirklich ganz allein. Die Via Urbana, sonst eine swingende Kneipenstraße: menschenleer. Der angesagte Eissalon im Ausgehviertel Monti: geschlossen. Es ist so still in den Straßen der alten Suburra und die Stille sagt, hier wohnt niemand mehr. Alles Ferienwohnungen und keiner zu Hause. Nur auf der Piazzetta hängen Trauben von jungen Römern, aus einem Pub hört man sogar Englisch. Keiner trägt Maske.

Und dann biege ich auf die Via dei Fori Imperiali, die Aufmarschstraße zwischen Kolosseum und Piazza Venezia. Sonst um Mitternacht eine Garantie für Tote Hose, wer guckt schon um diese Zeit Ruinen? Aber heute ist was los, Lachen, Schreien, Gedränge. Römische ragazzi sausen, von ihren Freundinnen angefeuert, um die Wette auf den E-Rollern, die von der Stadtverwaltung überall im Zentrum für Touristen aufgestellt werden.

Und die albernen Roller sehen auf einmal gar nicht mehr so albern aus. Sie verleihen der frischen Juninacht jene Leichtigkeit, die sie verdient hat.

Rome again.

 

Esel trainieren

Im Internet wird jetzt Eseltraining für Führungskräfte angeboten. Wer einen sturen Esel auf Trab bringt, so die These, der könne auch seine Leute besser antreiben. Eine geniale Idee. Und ich Freak dachte, Eselmist sei das Geschäft meiner Zukunft! Dabei wäre es natürlich viel lustiger, den Erfolgreichen bei ihren Versuchen zuzuschauen, meine Esel vorwärts (oder sogar rückwärts, Kleinigkeit!) zu bewegen, mit Aufpreis darf auch der Stall ausgemistet werden. Ich könnte den KundInnenkreis beschränken auf Chefredakteure und Redaktionsleiter aus, sagen wir, Hamburg und München und hätte den Spaß meines Lebens. Im Gegensatz zu den Internet-Eseln sind meine nämlich nicht über Jahre vortrainiert. Weil ich nicht so der Erziehungs- und Dressur-Typ bin, konnten meine Esel bislang machen was sie wollten. Seit 6000 Jahren müssen Esel für den Menschen arbeiten, bei uns war Otium angesagt.

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Da rauft sich natürlich jeder Eselexperte die Haare. Aber auf Eselexperten habe ich ungefähr so viel gegeben wie auf ExpertInnen der Kindererziehung. Sie haben mich schlicht nicht besonders interessiert.

In der langen Quarantäne jedoch kommt man auf abseitige Gedanken. Einer davon ist: Wie wäre es eigentlich, mal mit Lotti spazieren zu gehen? Über Stock und Stein, hügelauf, hügelab? Lotti heißt eigentlich Charlotte und ist mit ihren sieben Jahren die Jüngste der Familie. Schokobraun, großäugig, tolle Figur, eine Schönheit. Sehr verschmust. Und wahnsinnig stur.

Lotti will nicht von mir geführt werden, Lotti will hinter mir her schlurfen. Das findet sie ganz toll. Aber am Halfter angefasst, gar gezogen werden? Lästig! Beleidigend! Fasse ich sie am Halfter, bleibt Lotti stehen und schaut demonstrativ durch mich hindurch. Lasse ich sie los, wartet sie auf die nächste Streicheleinheit. Dann erst setzt sie sich in Bewegung.

Okay, dachte ich, es dauert vielleicht doch noch eine Weile mit dem gemeinsamen Spaziergang. Aber irgendwann wird sie es kapieren. Fehler! Lotti hat natürlich längst kapiert, was sie tun soll. Neben mir her laufen, versteht doch jeder Esel. Sie WILL aber nicht, denn sie weiß nicht, was das jetzt soll. Ganz schlimm wurde es, als ich mit dem Seil auf die Weide trat. Mademoiselle begab sich spontan in den Galopp. Bloß weg hier! Wer weiß, was das für ein Folterinstrument ist! Nach nur drei Tagen hat sie verstanden, dass das Seil nicht gefährlich ist. Jedenfalls auf Abstand. Für’s Anlegen brauche ich vermutlich noch mal eine Woche, konservativ geschätzt. Wenn ich es jetzt versuche, zieht sie sich unter den Holunderbusch zurück und schmollt.

Im Gegensatz zu Menschen muss man, merke dir das, Führungspersönlichkeit! Esel überzeugen, Dinge zu tun. Nicht vollquatschen oder gar anbrüllen: überzeugen. Es sei denn, natürlich, man zwingt sie mit roher Gewalt. Dreht ihnen die empfindlichen Ohren um oder prügelt sie. Für alles jenseits der Körperverletzung und Tierquälerei gilt: Ein Esel ist weder ein Hund noch sonst ein untergebenes Wesen und deshalb auch kein Befehlsempfänger. Ein Esel ist übrigens auch kein Pferd. Mit Pferden konnten Menschen über Jahrtausende in den Krieg ziehen – ein Esel würde den Teufel tun, sich auf ein Schlachtfeld peitschen zu lassen. Der geht ja noch nicht mal über eine Brücke. Esel sind die vorsichtigsten Tiere. Ganz große Skeptiker. Im Zweifel einfach stehen bleiben.

Die Führungspersönlichkeit meiner Lotti zu werden, ist deshalb eine riesige Herausforderung. Im Moment sieht es eher umgekehrt aus.

Unter Dachsen

Ein alter Traum von mir ist es, ein Buch über Dachse zu schreiben. Dachse gehören in die Kategorie der chronisch unterschätzten Tiere. Sie stehen ewig in zweiter Reihe, so wie der Esel hinter dem Pferd und die Ente hinter dem Huhn. Der Fuchs ist sagenhaft schlau, der Dachs ist… ja, was eigentlich? Man weiß so wenig über ihn. Dabei ist er doch ein wirklich markant aussehendes Geschöpf.

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Sodoma verhält sich zu Signorelli ja auch ein wenig wie der Dachs zum Fuchs. Der erste gilt als attraktiver Sonderling, der zweite als einer der ganz großen Stars der Kunstgeschichte. In Monte Oliveto Maggiore sprang Sodoma als Ersatz für Signorelli ein, als dieser einen besseren Job gefunden hatte als die Auspinselei eines Kreuzganges in der toskanischen Provinz. Prompt malte die zweite Wahl Sodoma überall Dachse ins Gewölbe. Der Schwarzweiße auf diesem Fresko trägt ein rotes Halsband, ein Hinweis darauf, dass Dachse in früheren Zeiten gezähmt wurden, etwa um Jagd auf Füchse zu machen. Ganz sicher waren sie kein Schoßhund-Ersatz. Denn Dachse stinken. Wie alle Marder setzten sie ihre Drüsensäfte großzügig zum Markieren und zur Selbstverteidigung ein. Auf diesem Fresko scharen sie sich indes sehr zutraulich um einen jungen Mann, der Sodomas Züge trägt. In seinem Haus in Siena umgab sich der Künstler, der eigentlich Giovanni Antonio Bazzi hieß, außer mit Dachsen auch mit Affen, Papageien und Rabenvögeln. Ihm ist es zu verdanken, dass Meles Meles seinen Auftritt in der Welt der Kunst bekam.

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Wir leben ebenfalls mit Dachsen, allerdings nicht unter einem Dach. Die Tiere stehen auch in Italien unter Schutz und sollen schön draußen bleiben. Wie viele es sind, wissen wir nicht genau, aber fast jeden Abend können wir sie hören, wenn sie im Olivenhain Wurzeln ausgraben oder gleich neben dem Haus laut schmatzend irgendwelche Kleintiere verzehren. Dachse essen besonders gern Regenwürmer, aber auch Käfer und Mäuse (die unsere verwöhnten Katzen liegen lassen). Zur Not geht auch Gemüse. Als die Kinder klein waren, schickte ich sie mit den Obst- und Gemüseabfällen zum Komposthaufen, etwa 100 Meter vom Haus entfernt. Ich sagte nicht: „Wirf das Zeug auf den Kompost“, sondern: „Bringe es bitte dem Dachs.“ Das fanden sie gleich viel interessanter.

Heute morgen habe ich dann gesehen, dass das mit dem Dachs und dem Kompost durchaus keine Erfindung war. Denn direkt neben dem Gemüseabfallhaufen auf der Grenze zwischen Olivenhain und Wald, sah ich das hier:

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Der große Baumeister hat gebuddelt. Und wie! Der Dachs gräbt sich ja nicht einfach ein Loch, sondern konstruiert komplizierte Wohnhöhlen, die aus Dutzenden von „Kammern“ bestehen können. Füchse sind als Untermieter willkommen. In Mecklenburg wurde eine weitläufige Höhle entdeckt, die sagenhafte 10.000 Jahre von Dachsen bewohnt gewesen sein soll. Forscher entnahmen das den Knochen-Funden von Beutetieren, die schon seit Urzeiten ausgestorben sind.

Was das Bauwerk auf unserem Grundstück angeht, könnte es sich um zwei neue Ausgänge jener Dachshöhle handeln, deren „Haupteingang“ ungefähr 150 Meter weiter hangaufwärts liegt. Für einen Dachs keine Entfernun, die buddeln ja locker kilometerlange Tunnel. Der neue Höhleneingang ist malerisch mit Efeu umrahmt. Schöner Wohnen bei Signore Tasso.

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Einmal bin ich sogar fast mit ihm zusammen gestoßen. Es war am Hoftor. Ich kam gerade von einem Spaziergang nach Hause, als der Dachs hektisch schnaubend die Wurzeln unter dem Kirschbaum inspizierte. Als er mich bemerkte, protestierte er. Es hörte sich wirklich an wie beleidigtes Schimpfen! Erst nach einer halben Minute drehte er mir sein breites Hinterteil zu und drehte ab.

Meine Nachbarn, der Dachs, ist ein knorriger Typ.

Bus-Tribunal

Auf der 64er Linie zwischen Vatikan und Bahnhof Termini fahren die meisten Touristen und die meisten Diebe. Beides steht seit Ewigkeiten fest und wundert keine(n) Eingeborenen. Man wappnet sich einfach für die Fahrt mit dem 64er mit ausklappbaren Stacheln an den Ellenbogen, Stiefelsporen und am besten auch noch mit einem kleinen Sauerstoffvorrat, die Luft ist nämlich zum Schneiden.

Und dann passiert in so einem gestopft vollen 64er halt, was passieren muss: Einer Dame  aus den Niederlanden, die nah an der Fahrerkabine steht, wird kurz nach der Haltestelle an der Piazza Venezia die Geldbörse gemopst. Die Dame schreit, aber nicht so laut, viel inbrünstiger schreit der Römer neben ihr, der erstens die Gelegenheit nutzt, den Kavalier zu spielen und zweitens, zu beweisen, dass nicht alle Römer Diebe sind, sondern die anständigsten Menschen. Dazu möchte er jetzt ein Exempel statuieren, das sich gewaschen hat.

„Halt an und ruf‘ die Polizei!“ brüllt der Römer in Richtung Busfahrer. „Wir haben einen Dieb!“ Von dem man übrigens nichts hört und sieht, wahrscheinlich ist er ziemlich klein und befindet sich bereits geknebelt im Polizeigriff des selbsternannten Ordnungshüters.

Der Busfahrer fährt erstmal stur weiter. Könnte ja jeder kommen. Auf der Via Nazionale, an der nächsten Haltestelle bringt er den Bus zum Stehen. Die Türen bleiben geschlossen. Zwei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten.  Das Publikum hinten vor dem Ausstieg tobt.

„Sollen wir etwa warten, bis die Bullen kommen?“ ruft ein junger Mann mit Bart. „Der hat das Portemonnaie doch längst zurück gegeben. Also geht uns nicht auf den Sack!“

„Mamma mia, sogar zum Klauen sind sie heute zu blöd“, stöhnt ein Signore im Kamelhaarmantel. „Mein Gott, der lässt sich erwischen und wir stehen uns hier die Beine in den Bauch. Also, das konnten sie früher besser.“

„Was wird das hier? Geiselnahme?“, zetert eine Frau mit Einkaufstüten. „Das hier ist der 64er, da wird halt geklaut. Muss man sich deshalb so anstellen?“

Der wackere Diebesfänger ist verstummt. Der Fahrer schweigt sowieso. In Minute 12 macht er die Türen auf. Die Polizei ist nicht gekommen. Aber als der Bus weiter fährt, ist der Dieb noch drin.

Altes Rom

Natürlich begegnet einem Latein hier auf Schritt und Tritt. Es ist ja alles voll mit alten Steinen! Aber dass einer seinen Kiosk so bemalt, ist dann doch eher selten:

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Zitiert wird der Anfang von Ciceros berühmter Senatsrede gegen den Verschwörer Lucius Sergius Catilina, der 63 v. Chr. die Herrschaft an sich reißen wollte. Übersetzt: „Wie lange noch (Catilina), wirst du unsere Geduld missbrauchen?“ Gesehen an der Piazza della Repubblica, unweit des Hauptbahnhofs Termini.

An wen sich der Appell richtet, können wir nur raten. An die städtische Polizei und ihre manchmal so willkürlich erscheinenden Bußgelder? An die Stadtverwaltung, die die kraterähnlichen Schlaglöcher rund um diesen wichtigen Verkehrsknotenpunkt partout nicht flickt? An den Fiskus? Die Schwiegermutter? Einen querulanten Kunden?

Fest steht: so gelehrt ist noch selten ein Stoßseufzer per Graffito daher gekommen.