La Fontana

226,5 Kilo Verpackungsmüll verursacht jeder Mensch jährlich in Deutschland, auf private Verbraucher entfallen 107 Kilo. Einfach nur irre! Und wenn man dann liest, dass der Plastikmüll nur zur Hälfte recycelt wird, rauft man sich die Haare. In Italien sind es 70 Prozent, immer noch zu wenig, aber ein deutlicher Hinweis darauf, dass es nicht an der Technologie liegt, wenn deutscher Müll keine Wiederverwertung findet. Man fragt sich, beispielsweise, wieso Plastiktüten erst jetzt verboten werden. In Italien gibt es schon seit 2011 keine mehr! Von wegen Klassenbeste im Umweltschutz. Wir Deutsche sind allerhöchstens Nummer eins im Fach Heuchelei und Verdrängung.

Dabei könnten wir zum Beispiel von den Italien lernen, dem Land, wo die Hochgeschwindigkeitszüge pünktlich fahren. In Rom kriegt man für Plastikflaschen an einigen Recyclingbehältern Bonuspunkte für die Öffentlichen. Also U-Bahn-Tickets für Plastikmüll. Resultat: In elf Wochen Projekt sind 750.000 Pet-Flaschen recycelt worden. Okay, das Pfandprinzip ist noch besser. Aber es müssen ja keine Flaschen sein… wie wäre es zum Beispiel mit Konservendosen?

Ebenfalls kopierwürdig: Der Trinkbrunnen, wie er mittlerweile in vielen italienischen Dörfern und auch in einigen (noch zu wenigen) römischen Stadtteilen steht.

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Ausgegeben wird aufbereitetes Trinkwasser mit und ohne Kohlensäure (ohne kann man es logischerweise auch einfach aus dem Kran nehmen). Anderthalb Liter kosten fünf Cent. Einen Flaschenkorb mit sechs 1,5-Liter-Glasflaschen kann man im Laden nebenan kaufen. Sicher, auch Kohlensäure für zu Hause ist mittlerweile zu haben. Aber sich am Brunnen zu treffen, wie in alten Zeiten, ist doch viel schöner.

 

 

Straße der Grabmäler

Grabmal, das klingt uns wie ein Wort aus längst vergangenen Zeiten. So von vorgestern wie die Totengedenktage Anfang November. Allerheiligen und Allerseelen auf den Friedhof zu gehen, ist ein Ritual, das nur noch die Alten pflegen.

Rom ist die Stadt der Friedhöfe, ja eigentlich ist die Stadt selbst ein riesiger Friedhof. In jeder Kirche liegen Gräber, hinzu kommen der innerstädtische Campo Verano, auf dem längst keine neuen Grabstätten mehr ausgegeben werden, der wunderbar entrückte Cimitero Accatolico (Nichtkatholischer Friedhof) neben dem einzigartigen Pyramiden-Grabmal des Gaius Cestius Epulo, eines hohen Beamten aus der Augustus-Zeit. Cestius hat der Nachwelt kaum mehr hinterlassen als sein Grabmal, aber das ist derart ausgefallen, dass sein Name auch Jahrtausende später noch erinnert wird. Gerade ist die Cestius-Pyramide mit dem Geld eines japanischen Unternehmers restauriert worden. Der Mäzen machte zwei Millionen US-Dollar locker.  Er handelt mit italienischer Mode und heißt Yuzo Yagi, was ja fast so schön klingt wie Gaius Cestius. (Übrigens leitet sich der Begriff Mäzen von Gaius Cilnius Maecenas ab, einem schwer reichen Förderer von Künstlern und Literaten und engem Freund von Augustus. Die Frage, was Mode mit einer Pyramide zu tun hat, ist leicht zu beantworten: Auch Grabmäler sind Moden unterworfen, zur Zeit des Cestius war Ägypten gerade sehr angesagt, weil sich Augustus mit dem Sieg über Kleopatra das Reich am Nil einverleibt hatte. Während es zu Beginn des 21. Jahrhunderts eher modern ist, überhaupt kein Grabmal mehr zu haben und möglichst spurlos, kostengünstig und anonym von der Erde zu verschwinden.

Kostengünstig ist in Rom schon auch für viele wichtig, aber spurlos oder gar anonym, das dürfte hier in Ewigkeiten nicht modern werden. Das Grabmal ist doch sozusagen der letzte Gruß an die Welt. Im Extremfall kann es durchaus eine Weile in der Gegend herumstehen, so wie an der Via Appia Antica.

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Sicher, auch damals konnten sich in der Nähe der Urbs nur sehr wenige Reiche ein schickes Grabmal an dieser Straße leisten, deren Bau schon 312 v. Chr. , also mitten in der Republik, auf Weisung von Konsul Appius Claudius Caecus begonnen wurde. Weiter südlich, Richtung Capua, wurden 61 v. Chr. 6000 aufständische Anhänger des Sklavenrevoluzzers Spartacus längs der Appia gekreuzigt. 6000 Kreuze! Das Grauen.

Über die Appia bewegte sich von Brindisi nach Rom im Winter vor genau 2000 Jahren auch der Trauerzug des toten Prinzen Germanicus, der am 10. Oktober 19 in Antiochia mit gerade 34 Jahren gestorben war. Seine Witwe Agrippina trug die Urne mit der Asche ihre Mannes erst auf dem Schiff über das winterliche Mittelmeer, dann die Appia entlang, immer bei sich. Tausende kamen ihr kurz vor Rom entgegen, genau wie im Jahr 37 wieder Tausende auf dieser Straße ihrem Sohn Caligula entgegen strömten, diesmal einen neuen Kaiser bejubelnd.

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Und heute: Stille. Zumindest an den autofreien Feiertagen, die aber auch nie ganz autofrei sind, weil sich tatsächlich immer noch die ganz Unverfrorenen hier entlang mogeln, über ein Pflaster, das ganz sicher nicht für Autos verlegt worden ist.

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Man kann hier joggen. Radfahren. Oder einfach schlendern, entlang einer Straße, die längst zum Inbegriff aller Straßen geworden ist, und die, obwohl sie natürlich immer noch von einem Ort zum anderen führt, wie losgelöst scheint von Start und Ziel und Raum und Zeit. Und es ist ein Moment an einem frühen, grauen Novembermorgen, an dem einen auf der Via Appia Antica ganz abgelegene Gedanken anfliegen können, zwischen den Grabmälern, von denen uns hohläugig die Römer von gestern anschauen.

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Der Gedanke, dass zwischen uns und ihnen 70 Generationen liegen – oder stehen, wie man es nimmt. 70 Menschen, das ist noch nicht einmal ein Dorf, nur die allernächste Nachbarschaft oder eine mittelgroße Festgesellschaft. Man kann sie sich sehr gut bildlich in einer Reihe vorstellen oder an einer Tafel.

Als die Via Appia Antica gebaut wurde, kannte man für das Jenseits diese Umschreibung:

Dort, wo die meisten sind.

Die neue Zeit

Als ich am 1. Juni 1990 in Rom ankam, reiste selbstverständlich mein Fahrrad mit mir. Ein blaues Ktm, mit dem ich Jahre lang zur Uni und in die Redaktionen geradelt war und außerdem Portugals Kopfsteinpflasterstraßen und Ungarns Sandwege befahren hatte. In Rom fuhr damals niemand Rad. So sehr niemand, dass ich meins nach einem weiteren Jahr frustriert wieder zurück nach Deutschland schaffte und hier auf eine Vespa umstieg.

Es folgten im Laufe der Zeit immer wieder neue Versuche, die dann regelmäßig wieder abgebrochen wurden. Zu kompliziert, zu gefährlich, keine Radwege, zuviel Verkehr, zu große Schlaglöcher, zu schlechte Luft.

Das ist Rom, 29 Jahre später.

Aber jetzt, unterm Haus:

 

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Der erste Fahrradständer in drei Jahrzehnten. Wow!  Das muss die neue Zeit sein.

Er steht vor einem Geschäft für Elektrowaren. Als ich reinging, um den Besitzer zu beglückwünschen, schaute er mich schräg an.

„Danke, nett von dir. Ma cchècevò. War echt nicht schwierig.“

Auf die Nüsse

In unsere Gegend an der Schnittstelle von Toskana, Umbrien und Latium kommen alljährlich Millionen gut verdienende Touristen aus Europa und aus Nordamerika. Leute, die an Kultur interessiert sind und sich von intakten mittelalterlichen Städten, pittoresken Dörfern und einer von Olivenhainen und Weinbergen geprägten, uralten Kultur-Landschaft in berauschen und beruhigen lassen wollen: Italien, wie es im Prospekt steht.

Tatsächlich ist es gerade so, dass die Städte und Dörfer unangetastet auf ihren Hügel träumen, wie es sich gehört – außer, sie befinden sich in Erdbeben-Hochrisikogebieten. Die Landschaft aber verändert sich radikal. Weinberge, mehr noch Olivenhaine verwildern und verschwinden, weil es zu mühselig und zu teuer wird, sie instandzuhalten. Die Landflucht der jungen Italiener hält seit Jahrzehnten an, in der Kleinflächen-Landwirtschaft arbeiten fast nur noch die Alten. Und die Klimaveränderung macht auch den Großproduzenten zu schaffen. Wer kann sich in diesen Zeiten noch darauf verlassen, dass die nächste Olivenernte das Überleben des Betriebs sichert? Wir (Kleinbauern mit 50 tragenden Bäumen) ernten schon seit zwei Jahren nicht mehr. Im ersten Jahr war’s die Fliege, im zweiten eine grausame Frostwelle mit einer Woche bei minus zehn Grad. Einer unserer Freunde, Landgraf und Großbauer in den nahen Sabiner Bergen mit 1500 Bäumen, schafft sich gerade ein neues Lagersystem an, mit dem das Öl auch in zwei Jahren nicht ranzig werden soll. Um der nächsten Missernte vorzubeugen.

Andere satteln gleich ganz um. Auf Haselnüsse. Hier sieht man, wie das geht. Die letzten Olivenbäume wurden, übel zurecht gestutzt, vor den neuen Haselnuss-Wänden stehen gelassen, mehr tot als lebendig:

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Italien ist heute nach der Türkei die Nummer zwei der Haselnuss-Produzenten weltweit. Die Türken halten 70 Prozent, die Italiener 12 Prozent. Der Abstand ist also riesig, soll aber möglichst rasch verkleinert werden. Ferrero (Nutella etc.) will bis 2025 jährlich 20.000 Tonnen mehr Haselnüsse aus Italien beziehen – der Lebensmittelriese war zum Beispiel wegen Kinderarbeit auf den Haselnussplantagen der Türkei ins Gerede gekommen. Und was Erdogan als Nächstes einfällt, weiß man als italienischer Unternehmer ja auch nicht.

Das Herz der Haselnussproduktion schlägt in unserer Gegend, genauer: In der Provinz Viterbo. 45.000 Tonnen jährlich, Tendenz steigend. Überall sieht man, wie aus Olivenhainen im Handumdrehen (tatsächlich schaufeln die Bagger) Haselnusswälder werden. Hier zum Beispiel ist der einzige Olivenhain weit und breit unschwer als silbergrauer Fleck zu erkennen. Ringsherum stehen nur noch dunkelgrüne Haselnuss-Plantagen.

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Der Effekt ist verheerend, nicht nur für’s Auge. Denn der Haselnuss-Strauch ist im Unterschied zum Olivenbaum nicht immergrün. Sein dunkelgrünes Laub fällt im Herbst ohne Anstalten zu machen, sich wenigstens dekorativ zu färben. Die Haselnuss ist außerdem kein Baum, schon gar nicht ist sie knorrig. Sie wird nicht tausend Jahre alt wie der Olivenbaum. Es sind langweilige Sträucher im Standardformat, industriell angepflanzt.

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Gegenüber dem Olivenbaum ist der Haselnussstrauch ein Starkfresser. Er frisst Dünger und Wasser tonnenweise. Für die Dürre-resistenten Olivenbäume braucht man allerhöchsten ein bisschen Naturdünger (wir nehmen Eselmist), viele Bauern düngen überhaupt nicht. Zum Schutz vor Fäule genügt Kupfersulfat, das auch in der Bio-Landwirtschaft zugelassen ist. Die Haselnuss aber will Herbizide, Fungizide und Pestizide en masse. Damit kommt man auf 50 Doppelzentner pro Hektar, während die Bio-Landwirte höchstens 15 bis 20 Doppelzentner erwirtschaften. Bei den Oliven ist das Verhältnis fast 1:1.

Gegen den rasanten Raubbau an der Landschaft hat die Regisseurin Alice Rohrbacher vor ein paar Monaten empört bei den drei Regionalverwaltungen protestiert. Namentlich wehrt sie sich gegen die rapide fortschreitende Monokultur in ihrer Heimat zwischen Orvieto und dem Lago di Bolsena. „Felder und Haine, Hecken und Bäume verschwinden für ein Meer von Haselnuss-Sträuchern“, klagte Rohrwacher. Die Regionalpräsidenten aus Umbrien, Latium und der Toskana antworteten, man müsse zuerst die Bauern schützen und dann die Landschaft. Nachhaltigkeit ist hier überhaupt kein Thema für die Politik. Mit Nachhaltigkeit gewinnt man keine Wahlen. Deshalb lässt man zu, dass die Straßen durch eine der schönsten Gegenden Europas zunehmend so aussehen:

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Trotzdem stemmt sich jetzt wenigstens der Bürgermeister von Bolsena, wo jede Menge Deutsche Urlaub machen, gegen den weiteren Flächenfrass der Haselnuss. Er hat ein Anbauverbot erlassen.

Es ist ein Anfang.

 

Schöner wohnen vor 1900 Jahren

Selbst im Spätherbst ist Rom heute von Touristen nachgerade überflutet. Sie stapeln sich vor dem Kolosseum, vor dem Vatikan, dem Trevibrunnen. Alles weltberühmte Monumente, also ist es natürlich verständlich, dass sie zum Pflichtprogramm der Reise gehören. Was viele nicht wissen: Es wird weiter gegraben, an vielen Stellen, dauernd. Immer wieder machen Archäologen wirklich sensationelle Funde. Dieser hier ist zwar schon seit einigen Jahren bekannt, aber nun gibt es ein tolles Video davon. Es handelt sich um das Privathaus von Trajan auf dem Aventin. Der aus Spanien stammende Trajan (53-117) lebte dort, bevor er 98 Kaiser wurde.

Auf dem Video sieht man, wie die Archäologen durch eine Öffnung der Kanalisation in die antike Villa hinabsteigen. Jetzt könnte ich mich darüber verbreiten, welche Kanaldeckel stadtbekannt sind als geheime Eingangspforten zu unterirdischen antiken Prunksälen. Tue ich nicht. Es gibt ja zum Glück sehr viele offizielle Tore zur einzigartigen Wunderwelt des alten Rom. Vom Thermenmuseum bis zum Palazzo Altemps, zu schweigen von den Kapitolinischen Museen. Und den Trajansmarkt, den Palazzo Massimo, und und und.

Da hat man, unglaublich aber wahr, auch mitten in der Saison seine Ruhe. Im Winter aber sind es magische Orte, an denen man ein Gefühl bekommt für die vielen Schichten der Stadt, für die Wurzeln Europas und für die eigene Vergänglichkeit.

Morgens um sieben

Wer sagt, dass es auf dem Land kein Nachtleben gibt, hat keine Ahnung. Wildschweine, Stachelschweine, Dachse, Füchse – das ganze Wühl- und Radau-Programm, dazu Grillenzirpen und Fröschequaken, begleitet von den armen Kettenhunden, die es hier tatsächlich immer noch gibt und die offensichtlich ihre Angst vor der Dunkelheit wegbellen müssen. Das alles, bis um halb sechs die ersten Hähne krähen und die ersten Kantenschneider singen.

Okay, Zeit aufzustehen, und zu gießen. Um später, so gegen sieben, auf dem Rad die kühle Luft und die leere Straße zu genießen. stradabiciWobei natürlich schon die ersten Frühsportler unterwegs sind. Die Signora mit Pudel, der Enthusiast, den ich heimlich so nenne, weil er mit unverschämt guter Laune und Stentorstimme alle um ihn herum anfeuert. Und die Schöne mit schulterfreiem T-Shirt. Wir begegnen uns nahezu allmorgendlich zwischen den Hügeln und Dörfern und sind uns vertraut, obwohl wir unsere Namen nicht kennen.

Am Nachmittag wird es dann so brüllend heiß, dass außer der Siesta nichts mehr geht.

Außer hier natürlich:

ultimaEin italienischer Mittelmeerstrand Ende Juli, unspektakulär, riesig und fast leer.

Wo, wird natürlich nicht verraten.

Der Heitere

Heute werden kleine Italiener nicht mehr Ilario genannt, was schade ist, denn erstens klingt dieser Name sehr schön und zweitens bedeutet er „der Heitere.“ Und heitere Menschen trifft man leider auch in diesem schönen Land immer seltener.

Der Ilario in unserem Dorf war genauso so, wie es sein Name versprach, von einer freundlichen Gelassenheit. Seinen Nachnamen kannte kaum jemand, weil sich ja sowieso alle duzen. Auf dem Land braucht man keinen Nachnamen. Wenn man Ilario genauer bezeichnen wollte, reichte der Zusatz „il trattorista.“

Dabei war Ilario nicht einfach nur Traktorfahrer, sondern mit seinem Lamborghini nachgerade verwachsen.

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Sommers wie winters thronte er auf seinem Gefährt, das nicht ganz so alt war wie er, aber doch schon ziemlich betagt. Nie begegnete uns Ilario zu Fuß, stets hatte er irgendwo eine Wiese zu mähen oder ein Feld zu pflügen bei Leuten, die sich einen eigenen Traktor nicht leisten konnten oder wollten. Und wenn er auf dem Lamborghini den Tiber überquerte, dann hieß es im Dorf: „Ilario ist heute im Ausland.“

Vor vielen Jahren kam Ilario auch zu uns und walzte den Olivenhain platt. Wenn er fertig war, pflegte er unter einer der Eichen am Rand des Hains stehen zu bleiben, im Schatten. Das war das Zeichen dafür, dass Ilario sein Werk getan hatte und nun gern ein Bierchen trinken würde. Wenn ich ihm das brachte, dankte er höflich, stieg aber nicht aus dem Sessel. Um Ilario vom Traktor runter zu bringen, raunten die Leute im Dorf, bräuchte es schon mehr als ein, zwei Flaschen Bier.

Irgendwann rammte er mit seinem Traktor unser Hoftor. Das war ihm so peinlich, dass er danach nicht mehr kam. Zu diesem Zeitpunkt war Ilario 87 und stocktaub. Ins Ausland fuhr er immer noch.

Zuletzt habe ich ihn vor einem Jahr gesehen, natürlich beim Landmaschinenschrauber. Ich erkannte ihn nicht sofort, ohne seinen Traktor. Ilario lächelte ein wenig schief mit seinen verbliebenen Zähnen, als ich ihn brüllend fragte, wie es denn so gehe. Wie soll es gehen, wisperte er, Signora, man wird nicht jünger. Aber es muss ja, es muss.

Seine Hände waren getränkt vom Maschinenöl, sein Gesicht zerfurcht von mittlerweile über 90 Sommern.

Am Mittwoch ist Ilario von seinem Lamborghini gestürzt. Ein abschüssiges Feld, ein Moment der Unachtsamkeit, vielleicht sogar ein kleiner Schlaganfall. Der Traktor fuhr dann ohne ihn weiter, das hat der  Trattorista nicht überlebt.

An einem glühend heißen Nachmittag im Juli ist Ilario, der heitere Traktorfahrer so gestorben, wie er gelebt hat: Aus dem Sattel gefallen, mit 93 Jahren.

Gelateria Hill

Das 3000 Jahre alte umbrische Landstädtchen Amelia hat Attraktionen zu bieten, vor denen man als Angehörige eines soeben in die Welt gepurzelten Barbarenstamms vor Erfurcht erzittern könnte. Stadtmauern, die älter sind als die von Rom zum Beispiel. Oder die einzige Kolossalstatue des Feldherrn Germanicus. Oder auch, viel banaler, den Biobauernmarkt in einem freskengeschmückten Kreuzgang.

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Aber beim letzten Markttag wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich keinesfalls die neue, ganz große Sehenswürdigkeit in town verpassen dürfe. Nämlich die Eisdiele von Terrence Hill, gleich um die Ecke, Via della Repubblica 52.

Wer Terrence Hill ist, weiß ich so ungefähr. Aber wirklich nur ziemlich vage und aus dem Internet, denn ich gehöre zu den 0,2 Prozent Deutscher meiner Generation, die noch nie einen dieser Fäuste-Filme gesehen haben. Zu blöd und zu reaktionär, befand mein Vater und verbot es uns. Genauso wie: Sissy-Filme, Bravo, Bild-Zeitung, Comics, Walt-Disney, Nestlé, Coca Cola, Deutsche und Dresdner Bank, Apartheid-Obst aus Südafrika, Wehrdienst (meinen Brüdern) und Pelz (meiner Mutter). Mein Vater, der selbst von höherer Schulbildung nur hatte träumen dürfen, war von einem derartigen Bildungshunger für seine Familie getrieben, dass wir kein einziges Mal Strandurlaub gemacht haben („verblödet nur“), dafür aber jede Menge Gewalttouren durch das Gelände nebst wildem Zelten und von ihm ausgetüftelten Botanikprüfungen. Dazu Ostermärsche und Friedensdemos, denn er war immer schon politisch links und hatte als einziger in unserem Dorf weder ein Auto noch die Mitgliedschaft im Schützenverein.

Terrence Hill hatte in seiner Welt keinen Platz. Stattdessen quälte sich mein Vater durch Fassbinders Berlin Alexanderplatz, das ich mit 14 mitschauen durfte und fürchterlich langweilig fand. Zumal ich mit keinem in meiner Klasse darüber reden konnte. In aller Unschuld erzog mich mein Vater, dieser Freak, zu einem asozialen Snob.

Und jetzt läuft mir auf dem Markt von Amelia Terrence Hill über den Weg. Nicht in persona natürlich. Er heißt ja eigentlich Mario Girotti und die Girottis sind alteingesessene Handwerker und Zuckerfeigen-Fabrikanten. Die Eisdiele, wird mir erzählt, habe es früher schon einmal gegeben. Der Terrence habe sie nur wieder eröffnet. Schauen wir mal.

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So sieht es von außen aus. Drinnen hängen Schwarzweißbilder von den alten Filmen, das Eis aber ist sehr bunt. Zu bunt für meinen Geschmack.

Das war’s dann wohl schon wieder mit mir und Terrence Hill. Frühkindliche Prägung halt. Geblieben ist die grenzenlose Ahnungslosigkeit gegenüber bestimmten Artikeln des Massengeschmacks. Letztes Jahr war ich in Venedig eingeladen, im deutschen Studienzentrum, das in einem wunderbaren Palazzo am Canal Grande untergebracht ist. Der Direktor führte mich auf die Terrasse mit fantastischem Ausblick über den Kanal und wies auf einen Balkon am Nachbarhaus. „Dort sehen Sie“, rief er stolz, „die Dachterrasse der Brunettis.“ Ich muss unglaublich blöd geschaut haben, während ich verzweifelt mein Gedächtnis durchkramte. Brunetti, welcher Brunetti? Politiker? Industriekapitän? Künstler? Dirigent?

„Der Kommissar aus den Donna-Leon-Filmen“, half mir freundlich der Direktor.

Donna Leon, was es alles gibt. Erleichtert nickte ich: „Wie interessant!“

Auf der Piazza

Heute  nachmittag, auf der Piazza Vittorio Emanuele II., mitten in Rom. Das Faschismus-Plakat stammt von der rechtsextremen „Casa Pound“, das Schild mit den italienischen Produkten von einem Straßenhändler aus Bangladesh, der seinen Stand mit Klamotten gleich darunter aufgebaut hat.

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Das Meer im Winter

Der Februar ist ein schöner Monat, um das Meer in Italien so zu erleben, wie das Reisende vergangener Zeiten taten: Draufschauen und entlanglaufen, anstatt reinzuspringen. Das Wetter ist irgendwo zwischen Winter und Frühling und es kann geschehen, dass man innerhalb von wenigen Tagen an zwei verschiedenen Stränden beides erlebt.

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So erwartet einen das Meer in der Toscana, kurz vor der Halbinsel Monte Argentario (im Hintergrund links sieht man auch noch die Insel Giglio). Das Licht ist noch ein wenig kalt, aber südlich bleibt es doch.

 

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Und das Wasser ist so klar, wie man es aus dem Sommer kennt. Das hier ist mein Badestrand, eine zehn Kilometer lange Sandstrecke, zur Landseite hin abgegrenzt von einem Dünenschutzgebiet des WWF. Auch im Hochsommer kann man hier seine Ruhe haben, aber heute ist wirklich niemand unterwegs.

 

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Alles meins! Die Winterstürme haben Holz, Plastikflaschen und viele Muschelgehäuse angespült, ich finde sogar einen kleinen Thunfisch.

 

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Und die Strandbar ist natürlich geschlossen. Vor Ostern tut sich hier nichts außer den alljährlichen Reparaturarbeiten.

Soviel zum Tyrrhenischen Meer am letzten, also südlichsten Strand der Toscana. Verwunschen, verlassen, wild und sonnig. Und nun kommt das ganze Gegenteil: Die Adria in Cesenatico, gute 400 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der italienischen Halbinsel. Da kommt man abends an, isst hervorragend in einer unbedingt empfehlenswerten Osteria am Kanal und wird anschließend vom Tuten des Nebelhorns in einer sehr heimeligen Pension in den Schlaf gewiegt. Das Nebelhorn tutet dann aber die ganze Nacht. Und am nächsten Morgen wird auch klar, warum:

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Wo ist nur die Sonne? Wo der Strand? Und wo ist das Meer? Alles unter einem feinen Schleier. Von der Adria rufen die Möwen. Und schließlich, in etwa fünf Meter Entfernung, wird sie tatsächlich sichtbar.

 

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Grau in grau, ein Wintermeer in der weiten Nebelsuppe. Nur die buntgestrichenen Badeanstalten beschwören einen fernen Sommer, heute allerdings in Pastell. Das passt aber ganz gut zum 60er-Jahre-Charme, den Cesenatico unbeirrt ausstrahlt.

 

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Wie es wohl drinnen aussieht? Leider ist niemand da, um die Tür zu öffnen. Im alten Hafen herrscht dann vollends schöne Melancholie. Aber die Cafés sind immerhin offen, zum aufwärmen bei einer heißen Schokolade.

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