Der Landvermesser

Kein Zufall, wenn die Fußballoper zusehends zur Nostalgieveranstaltung mutiert. Es ist halt alles ein großer und melancholischer Abgesang – denn wer will schon die Instagram-Affen von heute bezwitschern, jene Immobiles, die ihre Länderspieltore mit einem markigen „Porca Puttana“ besiegeln. Ganz genau, das heißt: Dreckige Nutte. Und Schluss mit Oper, auf solche Typen verschwende ich keine Zeile und keinen Gedanken, so üppig könnte die Schmutzzulage ja gar nicht ausfallen. Oder Pogba und Cristiano Ronaldo, die Meister im Zocken, Selbstvermarkten und Flaschenverschieben. Ohne mich, Leute, schlimmer ist nur das Eiern auf der Psycho-Schiene. „Manchmal liege ich nachts wach. Ich bin doch auch nur ein Mensch“, hat Jogi Löw alles Ernstes der ZEIT geflüstert. Und weil der Chefredakteur himself das Interview geführt hat, wurde es mit genau diesem Sensations-Geständnis im Titel auf zwei Seiten ausgebreitet. Zwei ZEIT-Seiten! Der Syrien-Krieg ist ja nichts gegen die Erkenntnis, dass Bundestrainer Löw auch ein Mensch ist. Unter uns Klosterschwestern: Ein ziemlich langweiliger, ich habe soviel Tiefschürferei dann doch nicht bis zum Ende geschafft, bei Händel wäre es ein Rezitativ. Wieso interviewt Giovanni nicht mal Mourinho? Der grübelt nachts nicht über seiner Mannschaftsaufstellung wie der kreuzbrave Löw, sondern schnarcht den basstiefen Monster-Schlaf der Ungerechten. Aber, Achtung Tipp: Der Typ ist unterhaltsam. Ganz anders als Löws Nachfolger Hansi Flick, welcher sich bereits sehr frühzeitig den Trainerverstehern aus Hamburg anvertraut hat. Titel: „Ich möchte mir ein paar Geheimnisse bewahren.“ Was man angesichts seiner großzügig hingeblätterten Banalitäten nur begrüßen kann.

Womit wir bei Giampiero Boniperti wären, einem veritablen Heldentenor der Fußballoper, heute im Alter von fast 93 Jahren verstorben. Bei Juventus absolvierte er von 1946 bis 1961 nicht weniger als 460 Spieler-Einsätze, als Präsident zwischen 1971 und 1990 holte er neun Meistertitel, 2 Uefa-Cups, 1 Pokal der Pokalsieger und den unglückseligen Landesmeister-Pokal 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion. Dort bestand Boniperti darauf, allen 39 Toten – fast ausnahmslos Juventus-Tifosi – die letzte Ehre zu erweisen. „Er schritt an diesen provisorisch aufgebahrten Leichen vorbei“, schreibt heute Maurizio Crosetti in seinem Nachruf, „wie ein General an seiner in der Schlacht untergegangenen Truppe.“ Er ganz allein, so wie er auch allein die Entscheidung getroffen hatte, seinen Spielern das Ausmaß der Katastrophe zu verschweigen, ihnen das Weiterspielen zu befehlen, während auf den Tribünen die Welt unterging. Juventus holte den Pokal mit einem Tor von Platini. Bis heute wird bei jedem Juventus-Heimspiel an die Toten von Heysel erinnert. Und wer weiß, wie viel Nächte Boniperti wach gelegen hat, mit der Erinnerung an die grauenhaften Bilder von Brüssel.

„Siegen ist nicht wichtig. Es ist das Einzige, das zählt.“ Boniperti, ein italienischer Preuße, blond, blauäugig, pflichtversessen. Mut, Zurückhaltung, Disziplin für ein Leben bei Juventus. „Marisa“ nannten ihn die gegnerischen Fans, wegen seiner blonden Locken. Was besonders lustig war, verkörperte Boniperti doch geradezu idealtypisch jene markig-humorlose Männlichkeit, die auch in Deutschland den Schwarzweiß-Fußball prägte. Aber derart mit allen Wassern gewaschen wie dieser harte Hund waren sie nördlich der Alpen dann doch nicht.

„Unter Boniperti Fußball zu spielen war, wie bei Fiat zu arbeiten“, hat Dino Zoff mal erzählt. Der Torwart musste bei Gehaltsverhandlungen immer als Letzter ins Büro von Präsident Boniperti eintreten. Zoff war zwar Kapitän, aber es ging nach Nachnamen-Alphabet. Und Boniperti zog verlässlich sowieso immer nur die Niederlagen aus dem Karteikasten: „Gegen diese Gurken hast du gepatzt und jetzt willst du dafür auch noch mehr Kohle?“

Er war der Stallmeister der beiden Agnelli-Brüder Gianni und Umberto, denen die Juve gehörte und die den Glamour für sich gepachtet hatten. So überschüttete Gianni die Frau von Michel Platini mit roten Rosen, als er beharrlich um den Franzosen warb, den Boniperti für überschätzt und überflüssig hielt. Weil der zähe Manager die Vertragsverhandlungen führte, konnte Patron Agnelli später triumphieren: „Wir haben ihn für ein Stück Brot angeheuert und er hat Foie Gras draufgelegt.“ Auf dem Foto sieht man Gianni und Boniperti im Stadion, Boss und Präsident. Letzterer mit Zigarette. Er hat den Juve-und Fiat-Eigentümer nie geduzt.

Von Beruf war Boniperti geometra, also Landvermesser. Und so stellte er sich vor, wenn er Spieler anwarb oder sich in Zeitungsredaktionen beschwerte. „Buongiorno, hier spricht geometra Boniperti.“

Landvermesser, ein Beruf wie aus einer Kafka-Erzählung. Aber mit Kafka hatte Giampiero Boniperti so gar nichts am Hut. Denn nur Siegen zählte und seine Siege konnte er am Ende gar nicht mehr zählen. So einem sagt man zum Abschied nicht leise Servus, sondern Chapeau.

(Die Bilder sind aus meinem Buch „La Fidanzata – Juventus, Turin und Italien.“ Erschienen 2018, naturalmente bei Berenberg.)

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